Darf ich noch hoffen?
Die Welt, die sich uns in den vergangenen Jahren darstellt, hat viele von uns zu Pessimist:innen gemacht. Da kommt die Frage auf, im Beruf wie im Privatleben: Ist Hoffnung überhaupt noch zeitgemäss?
Wer regelmässig die Nachrichten liest, wird über Pandemien, Klimawandel, Artenverlust, mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz, Fake News, Inflation und Krieg informiert. Kein Wunder, dass über die Hälfte der Europäer:innen ein eher dunkles Bild von der Zukunft hat. Wo ist die gute Hoffnung geblieben? Ist der Glaube an eine bessere Zukunft in Anbetracht unserer Realität naiv geworden, oder gibt es trotz allem so etwas wie eine wohldosierte, berechtigte Hoffnung?
Glaubwürdigkeit des Pessimismus
Obwohl man meinen könnte, der Zukunftspessimismus sei als Zeugnis der vielen beunruhigenden Nachrichten ein eher jüngerer Trend, ist seine Anziehungskraft durchaus kein neues Phänomen. Schon in den 1840er-Jahren schrieb John Stuart Mill: «Ich habe beobachtet, dass nicht derjenige von vielen Menschen als Weiser bewundert wird, der hofft, während andere verzweifeln, sondern derjenige, der verzweifelt, während andere hoffen.» Ein Mensch also, der andere vor einem schrecklichen Unglück warnt, wirkt tendenziell glaubwürdiger als ein:e Optimist:in – dabei ist nebensächlich, wie realistisch das Behauptete ist. Meint beispielsweise jemand, ein bestimmter Aktienkurs werde in den nächsten fünf Jahren immens steigen, hält man ihn eher für risikoblind und blauäugig. Warnt mich aber eine Person vor dem Fallen des Kurses einer Aktie in meinem Besitz, so hat sie sofort meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
«Pandemien, Klimawandel, Inflation und Krieg: Kein Wunder, dass viele ein dunkles Bild von der Zukunft haben.»
Es scheint zwar, als gäbe unsere aktuelle Realität viel Anlass zur Schwarzmalerei. Doch die Popularität des Pessimismus begründet sich auch unabhängig davon in einer grundsätzlich höheren Glaubwürdigkeit pessimistischer Prognosen. Das gilt insbesondere dort, wo eine grosse Verlustaversion herrscht, sprich: wo die Sorge um einen Nachteil fruchtbaren Boden bietet für das rasche Gedeihen pessimistischen Gedankenguts. So zum Beispiel am Börsenmarkt.
Blick in die Kristallkugel
Wenn es um finanzielle und wirtschaftliche Zusammenhänge geht, wird Pessimist:innen oft eine grosse Bühne geboten. Dabei zeigt sich gerade an der Börse, dass eine pessimistische Haltung nicht in jedem Fall von mehr Realismus zeugt. Sie gleicht eher einer Self-fulfilling Prophecy, zumal das Sinken oder Steigen des DAX respektive des SMI stark von den Vorhersagen der menschlichen Akteure abhängig ist. Sind sie pessimistisch, dann fallen die Kurse. Sind sie hoffnungsvoll, steigen die Aktien. So gleicht der Blick auf die Börsenkurse fast einem Blick in die Kristallkugel – nur gibt er nicht einfach die Zukunft vor, sondern er gibt an, wie wir sie bewerten.
Dass beispielsweise der DAX seit Ende 1987 von 1000 Punkten auf rund 15 000 gestiegen ist, bestätigt, dass allen Umständen zum Trotz die Optimist:innen in der Überzahl sind – andererseits ist dies auch ein Resultat des Wirtschaftswachstums. Grund zur Hoffnung gibt es aber allemal! Und anstatt im nächsten Aktientief vorschnell die Erfüllung schwarzmalerischer Börsenprophezeiungen zu sehen, dürfen wir uns ab und zu der Worte des alten Optimisten Mark Twain erinnern: «Aktieneinbrüche sind wie Weihnachten. Sie kommen alle Jahre wieder.» Das grösste Tagesplus wird oft sogar in der tiefsten Krise erreicht, etwa während der Finanzkrise 2008 oder zu Beginn des Ukraine-Kriegs 2022.
Zeitalter der Zukunftslosigkeit
Nach dem begrifflichen Vorbild des Philosophen G. W. F. Hegel sprach Francis Fukuyama in den frühen 90er-Jahren noch vom «Ende der Geschichte»: Im Anschluss an den Kalten Krieg erwies sich die Demokratie als weltweit wichtigstes politisches System und viele Staaten hatten ein erfolgversprechendes, kapitalistisches Wirtschaftssystem etabliert. Die Menschen verband der gemeinsame Glaube an eine Zukunft in Freiheit und Wohlstand. – Zahlreiche Umfragen zeigen, dass dieser Enthusiasmus heute verblasst ist: Seit den frühen 2000ern verbreitet sich das Modell der Demokratie nicht mehr weiter auf der Welt. Wie viele Studien offenlegen, sind soziale Ungleichheiten gewachsen, der Graben zwischen Arm und Reich ist breiter geworden und die einst so strahlende Vision vom freien, wohlhabenden Leben hat sich für manche Bevölkerungsgruppen als Luftblase herausgestellt. Im Gegensatz zu Ländern wie China und Saudi-Arabien, welche in Umfragen regelmässig Optimismusraten von 75 bis 80 Prozent aufweisen, glauben nur 22 Prozent der jungen Europäer:innen an eine bessere Zukunft. Der Unterschied ist: Wo die Regierungen Chinas oder Saudi- Arabiens positive Visionen zum politischen Programm gemacht haben – man denke etwa an Xi Jingpings Versprechen, China bis 2049 «zu einem der grössten Länder der Welt» zu machen –, da scheint in vielen europäischen Ländern eine Leerstelle gewachsen zu sein. Angesichts dessen kann der Pessimismus desillusionierter Europäer:innen als Versuch verstanden werden, in ihrer Orientierungslosigkeit in Welt und Geschichte nicht noch mehr von der Zukunft enttäuscht zu werden.
Hoffnung und Freiheit
Tatsächlich ist die historische und wirtschaftliche Entwicklung aber nicht der einzige Grund für den wachsenden Pessimismus: In der zitierten Studie des Edelman Trust Barometer erklärt sich der Pessimismus in Demokratien auch durch den Eindruck der Bürger:innen, bei politischen Entscheidungen nicht wirklich mitwirken zu können. Demzufolge hat die Vorstellung einer negativen Zukunft nicht nur mit einem fehlenden positiven Ziel oder den sich ereignenden Katastrophen zu tun, sondern auch mit dem Glauben, wie viel Einfluss wir auf die Zukunft nehmen können. Pessimismus speist sich aus der Vorstellung einer Zukunft, die schicksalhaft über uns hereinbricht und ausserhalb unseres Handlungsraums liegt.
«Pessimismus kann ein Versuch sein, nicht enttäuscht zu sein von dem, was kommen mag.»
Aus diesem Grund führen pessimistische Prognosen tendenziell zu einer Einengung des Handlungsspielraums. Vernehmen wir zu viele schlechte Nachrichten auf einmal, verfallen wir in eine Art Starre: Es hat ja sowieso alles keinen Sinn. – Dagegen kann der Optimismus Handlungsmotive geben, da er ein freiheitliches Moment beinhaltet, ein: «Du kannst das!» Dieser Glaube ans eigene Können gibt uns einen Grund dafür, sich anzustrengen und den mangelhaften Status quo zu verändern. Während eine pessimistische Einstellung lähmend wirkt, befähigt uns optimistisches Denken zur Handlung. – Allerdings ist dieser Enthusiasmus mit dem Risiko verbunden, auch mal auf die Nase zu fallen, wenn Gutes erwartet wird, wo in Wahrheit Gefahr lauert. Die Gretchenfrage ist daher, ob die naive Hoffnung von einer berechtigten differenziert werden kann. Gibt es legitime Hoffnung? Oder in den Worten Immanuel Kants: Was darf ich hoffen?
Was darf ich hoffen?
Die Frage nach der Legitimation des Hoffens ist nach Kant eine der drei Kernfragen der menschlichen Vernunft. Sie ist von der Frage, wer oder was Hoffnung spendet, grundverschieden. – Alles Hoffen zielt nach Kant auf Glückseligkeit. – Zentral ist vielmehr, ob ich dies hoffen darf. Mit anderen Worten: Darf ich (berechtigterweise) hoffen, durch mein Handeln glücklich zu werden?
«Wollen wir das Blatt zum Guten wenden, so dürfen wir nicht nur hoffen: Wir sollen hoffen.»
Im Gegensatz zum Pessimismus und zur naiven respektive falschen Hoffnung ist die Legitimation des Hoffens davon abhängig, ob es realistisch ist, das Erhoffte auch zu erreichen. Das bedeutet, die Legitimation ist an die Grenzen des Handlungsspielraums gekoppelt. Dieser ist nun bei Kant nicht etwa durch politische Entscheide oder geltendes Recht begrenzt (dann wäre von Legalität die Rede), sondern durch die im strengen Sinne notwendigen, sprich durch die menschliche Vernunft begründeten Gesetze a priori. Im praktischen Sinne beinhaltet dies die moralischen Gesetze. Soll es nun ein Motiv geben, den moralischen Gesetzen gemäss zu handeln, anstatt es sich in der pessimistischen Starre bequem zu machen, so müssen wir annehmen dürfen, dass uns das moralisch richtige Handeln auch glücklich macht. Denn erst diese Hoffnung gibt einen Grund dafür, eine Anstrengung zu unternehmen, selbst wenn die Realität trostlos erscheint. Also ist das Hoffen auf eine gute Zukunft genau dann gerechtfertigt bzw. sogar erforderlich, wenn es eine moralisch begründete Bestrebung motiviert.
So gesehen ist die gute Hoffnung doch mehr als das Pfeifen der Seele im finsteren Walde: Indem sie uns dazu befähigt, den Status quo zu verändern, wissen wir durch sie, dass viele der genannten Probleme, welche – wie das Fallen der Aktienkurse – zunächst ausserhalb unserer Handlungsmacht zu liegen scheinen, Produkte menschlichen Tuns sind und somit durch es verändert werden können. Wollen wir also die Möglichkeit nicht fahren lassen, das Blatt zum Guten zu wenden, so dürfen wir nicht nur hoffen: Wir sollen hoffen.
Buchtipps: Hoffnung, beleuchtet aus mehreren Perspektiven
«Der Trost der Schönheit»
Grandios und bewegend schreibt Autorin Gabriele von Arnim darüber, wie wir Trost (sozusagen den Zwilling der Hoffnung) in der uns ständig umgebenden Schönheit finden. Wir müssen uns nur entscheiden, hinzusehen.
«Hoffnung»
Die Journalistin Nermin Ismail geht einem der urmenschlichsten Gefühle auf den Grund, trifft Menschen, denen die Hoffnung fast abhandenkam, redet mit ihnen über ihre schwersten Stunden und darüber, was ihnen geholfen hat. Ein starkes, «echtes» Werk.
«Radikale Hoffnung»
Jonathan Lear nähert sich der Hoffnung aus einer philosophischen Richtung – ähnlich wie die Autorin dieses Textes. Seine Frage: Erlaubt eine Welt wie die unsere, im Angesicht von kultureller Zerstörung zu hoffen?
«Hab ich noch Hoffnung oder muss ich mir welche machen?»
Ein aussergewöhnlich kluges, launiges Buch zu Hoffnung in schwierigen Zeiten – im für Till Raether typischen, leicht bekömmlichen (und trotzdem tiefgründigen) Stil.