Kersti Kaljulaid: An der Grenze
Als estnische Präsidentin erlebte Kersti Kaljulaid unmittelbar, wie der grosse Nachbar Russland immer aggressiver wurde. Wie schätzt sie die «Gefahr aus Moskau» gegenwärtig ein? Was kann Europa gegen Desinformation und antidemokratische Tendenzen tun? Und: Was würde eine Wiederwahl Donald Trumps für unseren Kontinent bedeuten?
m&k Kersti Kaljulaid, Sie haben 2021 Ihr Amt als Präsidentin Estlands abgegeben – sich danach aber keineswegs ins Privatleben zurückgezogen: Mit Ihrer Stiftung setzen Sie sich für Demokratie, freie Medien und Gleichstellung ein. Beginnen wir mit der Demokratie: Warum muss der Begriff 2024 im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen?
Kersti Kaljulaid: Die Gründe dafür sind vielfältig, was an sich schon ein Grund ist (lacht). Es gibt nicht mehr nur eine oder zwei Krisen, um die wir uns kümmern müssen, sondern wir erleben eine sogenannte Permakrise, die von vielen Faktoren befeuert wird. Auf der ganzen Welt finden Wahlen statt, die stark von russischer Einmischung bedroht sind – mit künstlicher Intelligenz, Fake News und Deep Fakes wird die Öffentlichkeit misstrauisch gemacht; die Menschen wissen nicht mehr, woran sie glauben sollen. Wir Osteuropäer:innen sind russische Einflussnahme ja längst gewohnt, wir kennen das Spiel, nur die Mittel sind neu – mittlerweile sind sich aber auch andere europäische Staaten der Gefahren bewusst; zum Glück! Ich erinnere mich noch, wie ich auf einem Banner an der Aussenwand des deutschen Verteidigungsministeriums einmal den Satz «Die deutsche Freiheit wird auch im Internet verteidigt» las und dachte: «Ja, ganz richtig!» Bloss: Kommt diese Einsicht noch rechtzeitig? Wir wollen es hoffen.
Nun sind wir schon mitten im Themenkomplex «Desinformation und Demokratie»: Als ich für die vergangene Ausgabe von m&k mit der Thinktank-Gründerin Sasha Havlicek über russische Propaganda sprach, meinte sie, das Bewusstsein für deren Gefährlichkeit sei durchaus vorhanden – bei den effektiven Gegenmassnahmen hapere es allerdings.
Die beste Methode, um Fehlinformationen zu kontern, ist die Stärkung etablierter Medien, die seriöse Arbeit leisten. Wenn die Öffentlichkeit jederzeit auf vertrauenswürdige staatliche oder private Medienquellen in Print, Radio, Fernsehen oder online zugreifen kann, dann ist zumindest die Wahrscheinlichkeit grösser, dass viele Menschen ihre Informationen auch von dort beziehen – und nicht aus anderen, zweifelhaften Quellen. Ich weiss zwar, wie schwierig es geworden ist, seriösen Journalismus zu finanzieren … das darf aber kein Grund sein, die Gattung immer weiter zu schwächen. Ich sehe, ehrlich gesagt, ein zusätzliches «Umfeld-Problem»: Es gibt Apps oder Online-Plattformen, die profund aufgearbeitete Meldungen direkt neben Boulevardjournalismus platzieren. Ich stehe den Medien immer für Gespräche zur Verfügung, aber ich möchte meine eigenen Aussagen nicht im Kontext von Clickbait-Geschichten wiederfinden. Da müssen die Trennlinien wieder schärfer werden; da muss es Medien geben, die sagen: «Das ist vielleicht schwere Kost, aber das solltet ihr euch ansehen!»
«Wir Osteuropäer:innen sind russische Einflussnahme längst gewohnt, nur die Mittel sind neu.»
Sie haben vorhin erwähnt, dass Länder in Osteuropa schon seit Langem russischen Desinformationskampagnen ausgesetzt sind – und man in Westeuropa nur langsam begriffen hat, was systematische Desinformation überhaupt bedeutet. War es schwierig, Ihre Kolleg:innen in der Politik für das Phänomen zu sensibilisieren?
In Estland haben wir innerhalb derselben Generation zunächst sowjetische und dann russische Propaganda erlebt. Gross geworden bin ich mit dem Wissen, dass alles, was in der Zeitung steht, von der sowjetischen Propagandamaschinerie kontrolliert wird – als estnische Präsidenten musste ich mich damit auseinandersetzen, dass auf mitunter offen, mitunter verdeckt prorussischen Kanälen, auf Social-Media-Plattformen und via Twitter-Bots Stimmung gegen demokratische Institutionen gemacht wird. Deswegen sage ich auch: Ich begrüsse es, dass Google und Microsoft an der Münchner Sicherheitskonferenz in diesem Jahr erklärt haben, stärker gegen Fake News und Deep Fakes vorgehen zu wollen – vergessen wir aber nicht, dass das nur moderne Symptome eines alten, gravierenden Problems sind. Den Blick von Kolleg:innen in Westeuropa, die durch ihre Herkunft und ihr Aufwachsen eine andere Sicht auf die Welt hatten, musste man schärfen – aber das ist ja, wie gesagt, nun auch ganz gut gelungen. Übrigens: Es geht nicht nur darum, dass Politiker:innen die Gefahr, die von Russland ausgeht, verinnerlichen. Es geht auch darum, dass sie in ihrer eigenen Mediennutzung und der Distribution von Botschaften grosse Vorsicht walten lassen. Es kann sehr verlockend sein, ein Gerücht über die politischen Gegner:innen zu streuen, noch bevor überhaupt klar ist, ob es dafür eine Basis gibt. Aber damit speist man eventuell Desinformationen in den Diskurs ein.
Machen Sie sich als Ex-Staatschefin primär Sorgen um Konflikte im digitalen Raum – oder sehen Sie Estland auch einer physischen, militärischen Gefahr ausgesetzt?
Der einzige sichere Ort – damit meine ich einen konzeptionellen Ort, keinen geografischen – ist gegenwärtig die NATO. Ihren Mitgliedern garantiert sie gemeinsame Verteidigung, und da Estland ein Mitglied der NATO ist, fürchten wir von Russland im Moment keine offene Aggression. Aber: Putin hat durchblicken lassen, dass er eine Ausweitung und eine Diversifizierung seiner Einschüchterungsversuche plant, und dafür müssen wir gewappnet sein. Er wird versuchen, unser Streben nach Fortschritt zu behindern, unsere diversen Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen oder uns sonstwie zu schaden. Wir Est:innen machen uns keine Illusionen darüber, wer oder was er ist. Früher hielt sich hartnäckig das Gerücht, Putin sei ein Meisterstratege, der jeden seiner Schritte – und jeden möglichen Schritt seiner Gegenüber – im Voraus kalkuliert. Nun, was hat er gezeigt? Er hat Städte bombardiert, in denen Menschen leben, die er angeblich schützen will, weil sie «historisch betrachtet Russen sind» – und damit dafür gesorgt, dass sich praktisch die gesamte Ukraine von Russland abwendet. Er hat Finnland und Schweden im Eiltempo in die NATO befördert. Und er hat einer Vertiefung der europäischen Integration Vorschub geleistet. Das alles steht konträr zu seinen Zielen, was entweder bedeutet, er ist weniger strategisch versiert als gedacht – oder dass es auch ein irrationales Moment in seiner Persönlichkeitsstruktur gibt. Und damit kehren wir zurück zum Anfang Ihrer Frage: Auch wenn wir uns in der NATO sicher fühlen, haben wir unsere Verteidigungsausgaben erhöht; nicht nur auf zwei, sondern mehr als drei Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Denn … ganz exakt voraussagen, was passiert, können wir nie.
«Der einzige sichere Ort … konzeptionell, nicht physisch … ist gegenwärtig die NATO.»
Am Beistandsversprechen der NATO zweifeln Sie nie? Es gibt in den Medien immer wieder die Diskussion, ob ausländische Soldat:innen im Ernstfall «für Narwa sterben» würden …
Wenn die NATO ihr Beistandsversprechen nur ein einziges Mal bricht, dann ist sie sofort am Ende. Alle, die sich innerhalb des Bündnisses engagieren, wissen das. Ich bin überzeugt, dass die Mitglieder ihrer Pflicht, zu helfen, nachkommen würden.
Es ist durchaus spannend für mich, dass wir dieses Gespräch in Österreich führen – wie mein Lebensmittelpunkt, die Schweiz, spricht sich die Republik für politische Neutralität und Bündnisfreiheit aus. Das geht bei beiden Ländern aber nur, weil sie von NATO-Staaten umgeben sind, oder?
Ganz genau. Wissen Sie, die Idee von Neutralität entspringt – leider – einer nicht mehr zeitgemässen idealistischen Denkweise: «Wir halten uns heraus, aber man darf sich bei uns gerne treffen und verhandeln!» Bitte, das kann man machen, wenn die andere Seite sich zu Verhandlungen bereit zeigt. Aber Russland hat den Rubikon der Diplomatie schon lange überschritten. Und jede Stimme – ob sie nun aus der Schweiz, aus Österreich oder bestimmten Interessengruppen innerhalb der NATO-Staaten kommt –, die zur Zurückhaltung aufruft, die fordert, man solle noch einmal mit Putin reden, bremst uns aus. Davon profitiert letztendlich allein Russland. Noch mal: Ich bin froh, dass Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron mittlerweile mit gutem Beispiel vorangehen. Aber uns Est:innen ging das nicht schnell genug, und das haben wir auch deutlich gesagt (lacht).
Sie sind ein verhältnismässig kleines Land, aber enorm engagiert in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine. Von Anfang an.
Ja. Weil wir verstehen. Und weil wir hinschauen. Ich reise – nur um Ihnen ein Beispiel zu geben – seit Kriegsbeginn mindestens zwei Mal pro Jahr in die Ukraine und lasse mir persönlich von der Situation berichten. Es ist schrecklich, wie viele Menschen sterben, weil in anderen Staaten nur zögerlich Hilfen freigegeben werden. Wie viel Leid liesse sich vermeiden! Die Welt hätte schneller sein können; könnte noch immer schneller werden. Dann wiederum: Es zeigt sich Dynamik, und am Ende werden wir bestehen – wie damals, im Kalten Krieg. Es gibt ja auch Gutes daran, das alles schon einmal erlebt zu haben: die Zuversicht, dass die Kräfte der Freiheit schliesslich stärker sind. Mein Vater war in den 1970er-Jahren als Soldat der sowjetischen Armee zum Dienst in Kaliningrad zwangsverpflichtet, und er beobachtete westliche Flugzeuge, die an den Grenzen der UdSSR patrouillierten. Die erste Münchner Sicherheitskonferenz vor 61 Jahren fand statt, um auf die Bedrohung aus Moskau zu reagieren. Nichts ist neu, und wir wissen, wie es beim letzten Mal für jene ausging, die andere Völker unterdrücken wollten. Das muss Putin spüren. Er darf nicht für eine Sekunde denken, dass er den Krieg in der Ukraine zu seinen Bedingungen beenden kann. Das dürfen wir ihm nicht erlauben.
«Von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen ist nicht geholfen, wenn Politiker:innen den Mund halten.»
Ich würde gern noch über Ihr soziales Engagement sprechen, Präsidentin Kaljulaid. Ihre Stiftung setzt sich nämlich nicht nur für die Ukraine, für Demokratie und Pressefreiheit, sondern auch für Chancengleichheit in der estnischen Gesellschaft ein. Warum liegt Ihnen diese Thematik derart am Herzen?
Estland hat in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Art Turbo-Kapitalismus erlebt – bedingt dadurch, dass es vorher überhaupt keinen Kapitalismus gab. Daraus resultierte natürlich nicht automatisch eine soziale Marktwirtschaft – denn für eine solche hatten wir zu wenig Ressourcen und zu wenig Erfahrung mit der Distribution staatlicher Mittel. Das war ja über Jahrzehnte von anderer Stelle gelenkt worden. Wir mussten erst lernen, wie wir das Leid der Schwächsten in der Gesellschaft mitigieren – wir wir Menschen unterstützen, die besondere Bedürfnisse haben … darin waren wir, das muss man ehrlich sagen, in den frühen 1990er-Jahren noch nicht allzu gut. Und auch später, als ich Präsidentin wurde, merkte ich: Es gibt Aufholbedarf. Ich wollte, dass wir in einen kollektiven Diskurs darüber kommen, wie Menschen mit Behinderungen sich als vollwertige Mitglieder der Bevölkerung fühlen können. Ich wollte, dass wir häusliche Gewalt ernsthaft zu bekämpfen beginnen – dass wir der LGBTQI+-Community eine Plattform geben – dass wir unermüdlich für die Gleichberechtigung von Frauen eintreten. Ich wollte, wie bereits gesagt, die Medien noch unabhängiger machen. Als ich 2021 aus dem Amt schied, brachten einige der Menschen und der Organisationen, mit denen ich an all diesen Themen gearbeitet hatte, ihr Bedauern zum Ausdruck. Also sagte ich: «Anstatt bloss zu bedauern, dass ich nicht mehr Präsidentin bin – können wir doch einfach weitermachen!» (lacht) Und das taten wir dann.
Die Initiativen, die Sie via die Stiftung finanzieren, setzen schon bei Kindern an, richtig?
Ja, weil sie – so sehr das nach einer Phrase klingen mag – die Zukunft unserer Gesellschaft sind. Wir gehen in die Kindergärten und erklären, was «My body, my choice» bedeutet; ergo dass niemand das Recht hat, die Kinder gegen deren Willen zu berühren oder gar zu verletzen – und dass sie das Recht haben, sich zu wehren. Wir wollen, dass die heranwachsende Generation von Est:innen ein positives Selbstbild hat, dass sich die Kinder von heute morgen weigern, Dinge wie häusliche Gewalt zu akzeptieren. Wenn Sie jetzt eine Umfrage unter erwachsenen estnischen Frauen machen, dann sagen 40 Prozent von ihnen, dass sie schon mindestens einmal in ihrem Leben im heimischen Umfeld misshandelt wurden – das muss enden! Wir erklären in Kindergärten und Schulen aber auch, wie man miteinander diskutiert, ohne sich die Köpfe einzuhauen (lacht), wie man unterschiedliche Standpunkte zum Ausdruck bringt, ohne das Gespräch aufgrund der Differenzen einfach abzubrechen. Weil wir begreifen, was für innenpolitische Dynamiken sich sonst in zehn, zwanzig Jahren entwickeln mögen. Für mich ist Schwedens Bildungspolitik immer wieder eine Inspiration – das ist die Benchmark, an der wir uns orientieren.
Ich mag diesen Ansatz: Dass Sie einerseits der Ukraine helfen, Geld sammeln, «Feuer löschen» und Ihre Nation auf mögliche Konflikte vorbereiten; dass Sie aber auch mittel- und langfristig denken.
Alles ist miteinander verbunden: Indem wir unseren Kindern Werte vermitteln, prägen wir eine Generation, die den Herausforderungen der Zukunft gewachsen ist. Die mündig agiert, die autonom denkt. Das kann die Demokratie nur stärken – ebenso wie der Abbau von sozialen Unterschieden.
Zu Beginn unserer Unterhaltung sprachen wir von der «Permakrise», mit der wir konfrontiert sind. Sie scheinen – trotzdem – erstaunlich optimistisch und voller Energie. Macht Sie die Weltlage nicht mitunter frustriert und, ja, resigniert?
Wenn ich behaupten würde, niemals frustriert zu sein, dann wäre das eine glatte Lüge. Natürlich bin ich nicht immun gegen Sorgen, gegen Frust, gegen den gelegentlichen Anflug von Resignation. Aber ich war schon immer jemand, der Probleme gern beim Namen nennt, anstatt sie hin und her zu wälzen. Das hilft. Und hat mir als aktive Politikerin manchmal … Schlagzeilen eingebracht.
Zum Beispiel?
Ich habe in der ersten Rede, die ich als Präsidentin am estnischen Unabhängigkeitstag hielt, gesagt: «Heute ist ein Feiertag. Das bedeutet, dass statistisch mehr Frauen geschlagen werden als sonst.» Da waren einige im Publikum pikiert – aber es ist die Wahrheit. Den betroffenen Frauen ist nicht geholfen, wenn Politiker:innen den Mund halten. Wir müssen immer dann über die schwierigen Themen sprechen, wenn wir wissen, dass wir die grösstmögliche Aufmerksamkeit generieren können. Legen wir die Karten auf den Tisch – und dann schauen wir, was wir tun können.
Ist Ihr Hang zum positiven Aktionismus ebenfalls kulturell beeinflusst?
Sie müssen sich dazu die Historie meiner Generation vergegenwärtigen: Als Estland seine Unabhängigkeit wiedererlangte, lag der Medianlohn bei 25 US-Dollar pro Monat. Heute sind wir bei 1800 US-Dollar. Das haben sich die Menschen erkämpft, Stück für Stück, und die Politik hat dabei geholfen. Wir haben unermüdlich daran gearbeitet, in die Europäische Union aufgenommen zu werden; in die NATO zu kommen. Ohne unbedingten Willen zur Veränderung, ohne Pragmatismus und ohne Durchhaltevermögen hätte nichts davon funktioniert. Ich bleibe zwar dabei, dass wir in den 1990er-Jahren bestimmte Dinge lernen mussten – aber ich würde gleichzeitig sagen, dass wir damals grosses Glück hatten, denn die ersten Anführer:innen des freien Estlands haben in Schlüsselfragen – etwa jenen der nationalen Sicherheit – sofort den richtigen Instinkt bewiesen.
Nun haben wir über Demokratie, über Propaganda, über die NATO gesprochen – und über diverse Wahlen, die 2024 anstehen. Im November treten Joe Biden und Donald Trump wohl erneut gegeneinander an. Wie bereiten wir uns darauf vor, dass Trump diese Wahl gewinnen könnte?
Ich halte es für klug und richtig, dass Europa verstärkt über die eigene Verteidigung nachdenkt und dass konkrete Schritte unternommen werden, um die Armeen auf dem Kontinent zu stärken. Ich bin aber gleichzeitig nicht dafür bekannt, in Donald Trump ein grosses Risiko für den Fortbestand der NATO zu sehen – zumindest wenn man seine erste Amtszeit als Indikator nimmt. Gut, er hat immer wieder betont, dass einige Länder mehr in ihren Schutz investieren müssen, aber das hat Barack Obama auch getan. Letzteren hat man jedoch … man hat nicht wirklich befürchtet, dass er irgendwelche Konsequenzen zieht, sagen wir es so. Trump liess seine europäischen Kolleg:innen im Unklaren darüber, was er tun würde. Aber de facto war er sehr konsequent, was den Schutz der NATO-Ostflanke angeht: Er war mehrmals in Polen; erwog, eine dauerhafte US-Basis in dem Land zu errichten. Sein Vize, Michael Pence, war überaus engagiert, die Beziehungen der USA zu Osteuropa zu stärken. Trump und Putin haben – ob nun bewusst oder unbewusst, geplant oder ungeplant – eine neue europäische Sicherheitsarchitektur initiiert.
Und dafür gesorgt, dass Europa unabhängiger von russischem Gas wird.
Das stimmt. Damit hängen übrigens auch einige der Nachhaltigkeitsziele der EU zusammen – man hätte den Ausbau erneuerbarer Energien wohl nie derart forciert, wenn die Situation in der Ukraine nicht aufgetreten wäre. Die Tragik, die der Krieg mit sich bringt – die unnötigen Tode – sind davon leider unbenommen. Aber Putin hat auch im Bereich Energie all das erreicht, was er nicht erreichen wollte. Ein meisterhafter Stratege eben.
Kersti Kaljulaid ist eine estnische Wirtschaftswissenschaftlerin und Politikerin. Von 2016 bis 2021 war sie Staatspräsidentin der Republik Estland – die vierte Regierungschefin seit der estnischen Unabhängigkeit von der UdSSR und die erste Frau, die das Amt seit der Staatsgründung 1918 bekleidet hat. Heute engagiert sie sich mit ihrer President Kaljulaid Foundation für diverse gesellschaftliche und soziale Themen – unter anderem Presse- und Meinungsfreiheit, Demokratieförderung und Bildungspolitik.
Dieser Artikel erschien zuerst in der m&k Printausgabe 6-7/2024.