«Ein Ombudsmann muss die Nähe der Redaktion suchen»

François Gross über seine Aufgabe als «médiateur» bei 24 Heures in Lausanne

François Gross über seine Aufgabe als «médiateur» bei 24 Heures in LausanneEine wachsende Zahl von Medien haben in jüngster Zeit das Amt eines Ombudsmanns geschaffen und hoffen dadurch, den Kontakt zum Publikum zu verbessern und Gerichtsfälle zu vermindern. François Gross ist «médiateur» bei 24 Heures, der auflagestärksten Tageszeitung der welschen Schweiz. In einem Gespräch mit der WerbeWoche zieht er eine gemischte Bilanz.Erzählen Sie bitte kurz, wie Sie zu Ihrem Job als Ombudsmann gekommen sind.
François Gross: Im Herbst 1997 wurde ich von Edipresse angefragt, ob ich das neu geschaffene Amt eines «médiateur» übernehmen wolle. Anfangs war die Rede von einem Ombudsmann für die ganze Gruppe. Das schien mir aber zu viel.
Weshalb?
Gross: Als «médiateur» sollte man wenn möglich die Redaktionen von innen kennen. Ich kannte Le Matin und Tribune de Genève aber nicht gut. Schliesslich wurde ein «médiateur» für jede der drei Tageszeitungen ernannt.
Und im Juni 1998 haben Sie dann als Ombudsmann von 24 Heures begonnen.
Gross: Richtig.
Worin besteht Ihr Job eigentlich?
Gross: Mein Auftrag besteht ganz einfach darin, Klagen über die Zeitung zu behandeln und mein Urteil abzugeben. Letzteres mache ich auf zwei Wegen. Einerseits im direkten Kontakt mit dem «Kläger», andererseits öffentlich. Alle zwei Wochen publiziere ich einen Artikel in 24 Heures, in dem ich zu einigen der mir unterbreiteten Probleme Stellung beziehe.
Sie sind aber, wie der Presserat, eine ausschliesslich moralische Instanz, kein Gericht?
Gross: Stimmt. Der «médiateur» ist kein erstinstanzliches Tribunal und auch keine Rekursinstanz.
Nehmen wir an, ich habe 24 Heures Vorwürfe zu machen. Ich wende mich an Sie. Was passiert dann?
Gross: Ich versuche zuerst einmal, genau zu verstehen, worüber Sie sich beklagen. In vielen Fällen höre ich dann auch die andere Seite, die Redaktion, an. Ich bilde mein Urteil und gebe es bekannt. So einfach ist das.
Angenommen, die Redaktion habe Fehler begangen, beispielsweise die journalistische Ethik verletzt. Was können Sie tun?
Gross: Ich kann meine Meinung sagen, das ist aber schon alles.
Sie haben kein Weisungsrecht gegenüber der Redaktion?
Gross: Die einzige Machtbefugnis, über die der «médiateur» verfügt, ist seine moralische Autorität.
Wie ist Ihr Verhältnis zur Redaktion?
Gross: Anfangs war da eine gewisse Skepsis und Abwehr vorhanden. Ich musste den Redaktoren klarmachen, dass ich kein «Super-Chefredaktor» bin, sondern ein Journalist, der seine Meinung sagt und der Redaktion auch Probleme abnehmen kann.
Ist die Skepsis verschwunden?
Gross: Ein bisschen schon, glaube ich.
Suchen Sie intensiv den Kontakt zu den Journalisten?
Gross: Ja. Aber ich versuche gleichzeitig den Dienstweg zu respektieren. Wenn ich die Meinung der Redaktion einholen möchte, gehe ich zum Chefredaktor.
Wie viele «Klagen» bekommen Sie im Schnitt?
Gross: Etwa vier bis fünf pro Monat.
Muss man eigentlich selbst betroffen sein, um an Sie zu gelangen?
Gross: Nein. Wer der Zeitung etwas vorwerfen will, kann sich an mich wenden, auch wenn er sich von der Zeitung nicht persönlich tangiert fühlt. Eine Bedingung aber ist, dass nicht gleichzeitig gerichtlich geklagt wird.
Und worüber beklagt man sich am meisten?
Gross: Ein Grossteil der Klagen betrifft die Rubrik Leserbriefe. Viele Leserbriefschreiber beschweren sich, weil ihre Briefe nicht oder nicht schnell genug oder im gewünschten Umfang publiziert wurden. Das kann damit zusammenhängen, dass der Leserbriefredaktor ihre Zuschriften wegen Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit abgelehnt hat.
Das Problem Rassismus ist also eine Ihrer Dauersorgen?
Gross: Ja. Es ist eine der heissen Fragen, mit der ich mich chronisch auseinander setzen muss. Die Leute haben oft das Gefühl, die Rubrik Leserbriefe sei ein rechtsfreier Raum. Nur muss ich sie immer wieder darauf hinweisen, dass der Verleger auch für den Inhalt der Leserbriefseite verantwortlich ist, dass also die rechtlichen Normen auch hier gelten.
Welches sind die anderen Hauptprobleme, zu denen Sie Stellung nehmen müssen?
Gross: Was immer wieder zu Polemiken Anlass gibt, ist die Behandlung religiöser Themen oder der Sexualität in den Zeitungen.
Halten Sie den «médiateur» für geeignet, um den Druck auf die Medien zu dämpfen und die Zahl der Klagen zu senken?
Gross: Meine Bilanz ist durchzogen. Ich glaube, diese Institution ist nicht genügend bekannt. Ich nenne ein Beispiel: Die 24 Heures berichtete neulich über eine Schule, die einen afrikanischen Schüler weggewiesen hat. Die Lehrer fühlen sich verunglimpft, weil man ihnen zu Unrecht Rassismus vorgeworfen habe. Sie hätten an mich gelangen können. Sie haben es nicht getan und anderweitig protestiert.
Viele Menschen fühlen sich als Opfer der Medien. Wir Journalisten müssten ihnen doch die Möglichkeit geben, zu unserer Arbeit Stellung zu beziehen…?
Gross: …das stimmt…
…aber was tun, damit die Leute besser zu Wort kommen?
Gross: Die Rubrik Leserbriefe ist ein sehr wichtiges Ressort, das vermehrt gepflegt werden sollte. Es ist nicht gut, wenn ein Journalist diese Rubrik gewissermassen mit der linken Hand betreut.
Was sollte noch verbessert werden?
Gross: «Médiateurs» müssten noch besser in den Medienhäusern integriert sein. Man muss aber aufpassen, dass sie ihre Unabhängigkeit nicht verlieren, sonst ist es um ihre Autorität geschehen.
Interview: Christophe Büchi
VollblutjournalistFrançois Gross ist ein klingender Name des welschen Journalismus. Der heute 69-jährige Publizist war von 1970 bis 1990 Chefredaktor der Tageszeitung Liberté in Freiburg/Fribourg. Er machte aus der vormaligen katholisch-konservativen «Prawda» eine unabhängige, kritische und angesehene Zeitung. Nach 1990 arbeitete er als Korrespondent in Zürich. Schliesslich war er Chefredaktor von Radio Suisse internationale.

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