Ohne Furcht und Freunde – Rebecca Blumenstein im Interview
Sie ist Deputy Editor der «New York Times», Chefstrategin und Sparring-Partnerin des Verlegers: Kaum jemand weiss besser als Rebecca Blumenstein, wie der Titel tickt. Wir haben mit der Journalistin gesprochen; über China, Trump, Populismus — und den ständigen Kampf um Unabhängigkeit.
m&k: Bevor Sie zur New York Times kamen, waren Sie für das renommierte Wall Street Journal tätig. Sie leiteten beispielsweise von 2005 bis 2009 das WSJ-Büro in Peking. Wie war das Leben als westliche Journalistin in China?
Rebecca Blumenstein: Nach China zu gehen war definitiv eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. Es war ein grosses Risiko, denn 2005 sprach ich kein Mandarin, ich war noch nie dort gewesen und ich hatte drei kleine Kinder. Aber ich ging zu einer Zeit, als sich die Story vom Aufstieg Chinas zu einer der grössten Geschichten entwickelte, über die man schreiben konnte; als der Welt bewusst wurde, wie das Land alles umzugestalten entschlossen war. Aber leider wird sich unsere Zeit in China so kaum wiederholen – inzwischen sind so viele westliche Journalisten des Landes verwiesen worden …
Sie haben vor den Olympischen Spielen 2008 eine Politik der Öffnung erlebt – und danach den Beginn eines «Crackdown» …
Vor den Olympischen Spielen 2008 wollte China der Welt beweisen, dass es ein solches Grossereignis durchführen kann. Im Run-up zu den Spielen wollte man neben einem grossen Abkommen mit der Welthandelsorganisation auch eine gewisse mediale Offenheit an den Tag legen. Obwohl die inländische Presse verfolgt und überwacht wurde und die ausländische Presse in der Vergangenheit in China überwacht worden war, wurden viele dieser Beschränkungen aufgehoben. Wir waren beispielsweise relativ frei in unserer Berichterstattung. Und wir schrieben, worüber wir wollten, auch wenn die chinesische Regierung sich manchmal darüber empörte. Das ist jetzt fast alles passé. Ehrlich gesagt, ist es enorm traurig, wenn man bedenkt, wie wenig Zugang ein Grossteil der westlichen Presse zu China hat. Ich hoffe sehr, dass die Regierungen der USA und Chinas ihre Beziehungen wiederbeleben können, denn es ist für beide Länder von grundlegender Bedeutung, sich gegenseitig zu verstehen.
Glauben Sie, dass die strategischen Ziele der Chinesen immer noch unterschätzt werden – etwa, weil Handel und Wirtschaft ja auch so ganz gut funktionieren?
Nun, die Chinesen sind organisiert, entschlossen, langfristig planend und unbeirrbar in ihrem Bestreben, eine weltweite Vorherrschaft ihres Landes zu etablieren. Und in letzter Zeit werden sie dabei immer aggressiver. Deshalb erleben wir im Moment eine Entfremdung zwischen den USA und China. Die grosse Frage ist, ob das so weitergeht. Wissen Sie, was man bedenken muss – und was China von fast allen anderen Ländern der Welt unterscheidet –, ist die Grösse seiner Bevölkerung. Und die Tatsache, dass der chinesische Markt etwas ist, das kein Unternehmen ignorieren kann. Der Einfluss der Chinesen auf das weltweite Klima, die Autoindustrie, das Gesundheitswesen ist gewaltig … und diese Liste liesse sich beliebig fortsetzen.
«Wir haben uns die Fehde mit Trump gewiss nicht ausgesucht.»
Gleichzeitig sind viele Länder von chinesischen Zulieferern abhängig, um ihre eigenen Unternehmen am Laufen zu halten.
Ich bin schon lange der Auffassung, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir China für alles die Schuld geben. Sagen, dass das Land für die Umweltverschmutzung und all diese schmutzigen Fabriken verantwortlich ist … Ich höre sehr oft die Frage: «Warum können sie nicht einfach mehr wie wir sein?». Und ich denke, wir müssen innehalten und die Tatsache reflektieren, dass die Chinesen unsere Telefone und unsere Kleidung und so vieles von dem, was wir in unserem Alltag benutzen, herstellen. Ich glaube, dass wir sie manchmal herabsetzen, indem wir ihnen quasi die alleinige Schuld an der daraus resultierenden Umweltverschmutzung geben. Wie gesagt, bin ich überzeugt, dass der Aufstieg Chinas die grösste Story unseres Lebens ist – und in den USA wie in Europa müssen wir uns darauf vorbereiten, die Macht und den Reichtum, den wir lange Zeit genossen haben, zu teilen. Jedes Produkt, jeder Sektor der Wirtschaft wird durch China, das in vielerlei Hinsicht führend sein wird, völlig verändert werden.
«Ich ging zu einer Zeit nach China, als sich die Story vom Aufstieg des Landes zu einer der grössten Geschichten entwickelte …»
Nachdem Sie China verlassen hatten und in die USA zurückgekehrt waren, hatten Sie verschiedene hochrangige Positionen beim Wall Street Journal inne, bevor Sie 2017 zur New York Times wechselten. Im Februar 2021 wurden Sie dort aufgerufen, eine exklusiv geschaffene Position zu übernehmen – Deputy Editor im Publisher’s Office. Könnten Sie uns erläutern, was diese Position mit sich bringt?
Der Verleger der Times, A. G. Sulzberger, hat mich angesprochen, ob ich für eine solche Aufgabe offen wäre. Er muss ein Unternehmen mit etwa 5’000 Mitarbeitenden leiten und braucht Hilfe dabei, es zu lenken. Wir sehen uns bei der Times mit denselben Fragen konfrontiert wie viele andere Unternehmen auch – etwa: «Was können wir tun, um unsere interne Kultur zu verbessern?» oder «Wie können wir sicherstellen, dass die Times der Ort ist, an dem sich jeder ermutigt fühlt, die beste Arbeit seiner Karriere zu leisten?»
Was machen Sie ausserdem?
Neben der Arbeit an den Antworten auf diese Fragen unterstütze ich unseren Verleger dabei, die interne und externe Öffentlichkeitsarbeit zu erweitern: Im 15. Stock des Times-Gebäudes hängen Bilder von Staatsoberhäuptern aus aller Welt, die in den vergangenen Jahren zu Publisher’s Lunches gekommen sind. Nach der Pandemie hoffen wir sehr, diese Veranstaltung wieder stattfinden zu lassen und führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft einzuladen, um mit unseren Reportern und Redaktoren zu sprechen. Dieser Austausch ist sehr wertvoll und trägt dazu bei, dass wir die wichtigsten Meinungen hören; dass wir offen bleiben.
Da wir gerade von politischen Führern sprechen – in Ihrer ersten Woche bei der Times, im Jahr 2017, begann Donald Trump, Sie und Ihre Kollegen als «Feinde des Volkes» zu bezeichnen. Können Sie sich daran erinnern, wie Sie sich damals gefühlt haben?
Ich kann Ihnen versichern, dass das definitiv eine Fehde ist, welche die Times nie forciert hat. Was 2017 begann, war eine Zeit, die viele Menschen an die Bedeutung der freien Presse erinnert hat. Das ist etwas, das wir in Amerika lange Zeit für selbstverständlich gehalten hatten, und plötzlich …
Plötzlich muss es sich so angefühlt haben, als gäbe es einen Versuch, diese Freiheit einzuschränken.
Ja. Es gab andauernd Kampagnen, um grundlegende Fakten und die Wahrheit zu diskreditieren. Das ist übrigens ein ziemlich hässliches Erbe aus dieser Zeit, mit dem wir weiterhin leben müssen. Es wurde bewusst versucht, unsere Glaubwürdigkeit zu beschädigen, die «Times» und andere Medien als «Feinde des Volkes» darzustellen. Das diente und dient dazu, aufzuwiegeln und anzustacheln. Wie unser Verleger A. G. Sulzberger immer wieder betont: Das ist enorm gefährlich. Arbeit und Leben sind für die Reporter der «Times», für Reporter in ganz Amerika, in der ganzen Welt gefährlicher geworden. Die USA waren so lange Zeit ein Leuchtturm und ein Verfechter der Freiheit; sie waren das Land, das andere Länder dazu anspornte, den Idealen einer freien Presse und den Grundlagen der Demokratie gerecht zu werden. Dass die USA nun zum Anstifter für die Abkehr von eben diesen Grundsätzen wurden, gab vielen Staatsoberhäuptern auf der ganzen Welt einen politischen Blankoscheck, um ebenfalls hart gegen den Journalismus vorzugehen. Die Trump-Präsidentschaft hat also eine Dynamik in Gang gesetzt, die … sehr bedauerlich ist, um es gelinde auszudrücken.
Hat Ihnen das aber auch geholfen, sich die Werte der «Times» erneut zu vergegenwärtigen?
Nun, wir sind einfach standfest in dem geblieben, was wir immer getan haben; nämlich über die Welt zu berichten, ohne Angst vor oder Gefälligkeiten für irgendwen. Wenn Sie so wollen, haben wir unsere Anstrengungen sogar verdoppelt; ob es nun um Politik oder den Corona-Tracker geht, für den wir gerade einen Public Service Award gewonnen haben. Denn wir sind die einzige Unternehmung auf der Welt, die jeden einzelnen Covid-Fall festhält.
Hatten Sie das Gefühl, dass sich Ihre Leserinnen und Leser hinter Sie stellten, als Sie unter politischen Druck gerieten?
Wir haben die Unterstützung der Leser auf jeden Fall via unsere Abonnemente gespürt. Die Zahl der Abonnenten ist in den letzten Jahren stetig gestiegen – seit wir die Paywall eingerichtet haben, ist die Zahl der Abonnenten auf mehr als acht Millionen angewachsen. Aber wir sind, wie gesagt, überzeugt, dass es den Leserinnen und Lesern nicht «nur» um Politik geht. Tatsächlich haben unsere Berichterstattung über das Coronavirus, unsere Daten, der Impfstoff-Tracker, unsere Koch-App, unsere Rätsel … den Anstieg der Abonnemente befeuert. Und wir wissen den Support unserer Leserschaft sehr, sehr zu schätzen. Wir brauchen sie. Ich denke, eine der Tatsachen, die mich derzeit in Bezug auf den Journalismus an sich so optimistisch stimmen, ist, dass der regelrechte Kollaps des Wahrheitsbegriffs innerhalb sozialer Medien viele Menschen zu dem Schluss gebracht hat, dass sie bekommen, wofür sie bezahlen. Und dass Qualitätsinhalte nicht kostenlos sind.
Wenn eine Zeitung wie die New York Times vor allem von einer Seite des politischen Spektrums angegriffen wird, wie schwer ist es dann, die Neutralität zu wahren und gleichzeitig «zurückzuschlagen»?
Wir wollen keinesfalls die Zeitung einer bestimmten Seite sein. Und ich denke, dass wir an vielen Tagen die politische Linke genauso oder noch mehr ärgern wie die politische Rechte. Einige der schärfsten Kritiken, denen wir ausgesetzt sind, kommen von der politischen Linken und manchmal, ehrlich gesagt, wissen wir dann ganz besonders, dass wir einen Treffer gelandet haben (lacht). Wir müssen beide Seiten verstehen, beschreiben und, wenn nötig, kritisieren.
In der Schweiz gab es in letzter Zeit einige intensive Diskussionen über die Situation von Frauen, die in den Medien arbeiten. Wie würden Sie – als jemand, der eine beeindruckende Karriere in den Medien gemacht hat – besagte Situation einschätzen?Ich denke, sie verbessert sich ständig. Aber ich weiss, dass es noch viel zu tun gibt. Es kann zum Beispiel für Frauen schwierig sein, in Meetings das Wort zu ergreifen. Manche meinen, dass Zoom-Meetings und Fernarbeit das einfacher gemacht hätten … Ich denke hingegen, es ist noch schwieriger geworden! Ich ermutige Frauen immer dazu, sich in Meetings frühzeitig zu melden, aber viele von ihnen haben damit wirklich Probleme. Ausserdem glaube ich, dass viele Frauen, vor allem diejenigen, die Kinder haben, sich selbst ein Stück weit aufgeben und denken, dass sie es im Job nicht mehr schaffen können. Ich hatte das Glück, dass mir in solchen Momenten des Zweifelns stets neue Möglichkeiten aufgezeigt wurden. Und ich arbeite immer noch daran, mich dafür zu revanchieren und Frauen zu ermutigen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Es deprimiert mich mitunter regelrecht, wenn bei uns eine Auslandskorrespondenz frei wird und keine einzige Frau sich bewirbt!
Sind Sie der Meinung, dass die Pandemie – und die Tatsache, dass viele Unternehmen inzwischen auf Telearbeit setzen – berufstätigen Müttern neue Möglichkeiten eröffnet?
Ja, vielleicht erleben wir gerade einige Veränderungen, die den Frauen jene Flexibilität geben, die sie sich gewünscht haben. Zwei Tage im Büro, drei Tage von zu Hause aus arbeiten … das ist etwas, das Frauen wirklich helfen könnte, denn es macht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf viel leichter. Und die Unternehmen profitieren davon sehr, sehr stark: Ich habe früher für einen Chefredaktor gearbeitet, der immer sagte: «Mütter sind Deadline-fokussierte Menschen, sie erledigen, was man ihnen aufträgt!» (lacht)
«Was können wir tun, um unsere interne Kultur zu verbessern?»
Wenn Sie in die nicht allzu ferne Zukunft blicken, glauben Sie, dass der Populismus seine Hochphase erlebt hat – oder nimmt er gerade quasi Anlauf?
Nun, ich bin keine Politikjournalistin. Aber ich komme aus einer Stadt in Michigan namens Bay City. Ich habe im Vorfeld der Wahl eine Geschichte über die Stadt geschrieben: Sie ist ein Ort, der eine demokratische Hochburg war, 2016 aber an Donald Trump ging und 2020 erneut, obwohl Michigan – wenn auch nur knapp – von den Demokraten gewonnen wurde. Die Antwort auf Ihre Frage lautet dementsprechend wohl: Wir wissen nicht, was passieren wird, aber wir müssen stets vor Ort sein und unser Bestes tun, um das zu verstehen, was geschieht. Es ist beispielsweise enorm bedauerlich, dass die Frage der Impfungen in den Vereinigten Staaten Teil der Parteipolitik geworden ist, während der Rest der Welt sich darum reisst, überhaupt Impfdosen zu bekommen. Ich fürchte, dass die Parteilichkeit nicht verschwinden wird.
Was können Journalisten tun, um bei der Verständigung zu helfen?Was wir als Journalisten tun müssen, ist, zu versuchen, die Menschen aus ihren «Informationsblasen» herauszuholen. Eben weil die sozialen Medien in vielerlei Hinsicht nicht in der Lage sind, Fehlinformationen zu korrigieren. Wir müssen in der Lage sein, den Menschen Fakten zu liefern – auf mindestens das, eine gemeinsame Faktenbasis, müssen wir uns einigen können. Ich bin aber gleichzeitig der festen Überzeugung, dass es keinen Sinn macht, Menschen für ihre Überzeugungen zu verteufeln – selbst wenn man nicht mit ihnen übereinstimmt. Für eine Zeitung wie die unsere gibt es im Allgemeinen nichts Besseres, als vor Ort zu sein und zu versuchen, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Um noch einmal auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen: Die Zwischenwahlen in den USA werden interessant sein; niemand weiss, wie sie ausgehen werden, aber es steht viel auf dem Spiel. Es wird eine unglaubliche Story sein, über die wir da berichten können.
Rebecca Blumenstein ist Deputy Editor im Publisher’s Office bei der «New York Times». In dieser Funktion zeichnet sie für die strategische Ausrichtung, aber auch die öffentliche Repräsentation des Blattes mitverantwortlich. Zuvor hielt sie verschiedene hochrangige Positionen bei der «NYT» und dem «Wall Street Journal»; bei Letzterem etwa die stellvertretende Chefredaktion und die Leitung des China-Büros.