Jean-Remy von Matt: Die Zeit, die uns bleibt
Werbelegende Jean-Remy von Matt treibt mit Skulpturen, die die Endlichkeit des menschlichen Lebens betonen, seine nächste Karriere voran. Zusammen mit dem Zürcher Start-up Vivents präsentiert er eine Sanduhr, die man nicht drehen kann. Und denkt bereits über neue Projekte nach.

Neulich besuchte Jean-Remy von Matt, Deutschlands bekanntester «Werber a.D.», eine Veranstaltung in Berlin. An einem Stehtisch traf er drei Menschen, die seine ersten Gehversuche in der Welt der darstellenden Kunst beobachtet hatten – unter ihnen auch «Malerfürst» Markus Lüpertz. Während die «Nichtkünstler:innen» am Tisch voll des Lobes für von Matts Werke waren, machte Lüpertz eine im Kontext eher als «Antikompliment» zu begreifende Bemerkung – er referierte explizit auf die Sixt-Kampagnen des Ex-Werbers und brachte seinen Respekt dafür zum Ausdruck; er erwähnte dessen Kunst aber mit keinem Wort. «Ein Lob von Lüpertz hätte ich schon ganz gern bekommen, muss ich sagen», erinnert sich von Matt. Und schiebt dann mit einem Schmunzeln hinterher: «Aber ich bin ja noch neu in dem Metier.»
Die Anekdote zeigt, wie viel sich bei dem ikonischen Agenturgründer verändert hat: Im Tagesgeschäft seiner Unternehmung wirkt er nicht mehr mit, steigt nur noch selten für geschätzte Traditionskund:innen – zum Beispiel Ricola – in den Sattel. Und auch dies nie für längere Perioden. «Beinahe fünf Dekaden habe ich als Dienstleister Ideen produziert», konstatiert er, «nun möchte ich endlich selbstbestimmt kreativ sein.» Also gönne er sich den Luxus, das zu tun, was er wirklich wolle.
«Werbung ist nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt. (Auch) deswegen nun: Kunst.»
Während er selbst an Jahren gewinnt (im November wird er 71, auch wenn man ihn optisch höchstens für Ende 50 halten würde), hat Jean-Remy von Matt um die Themen Zeit und Vergänglichkeit herum mit dem Aufbau eines artistischen Œuvres begonnen, das einmal Teil seines kreativen Vermächtnisses werden soll. Er glaube zwar durchaus, dass einige seiner grossen Kampagnen den Branchendiskurs auch in einer ferneren Zukunft mitprägen würden, aber Werbung sei nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt; heute noch viel weniger als früher. (Auch) deswegen nun: Kunst.
Zwei Uhren, viele Botschaften
Angefangen hat von Matt mit einer quasi archetypisch schweizerischen Tätigkeit: der Uhrmacherei. Bloss hat er deren Prinzipien auf den Kopf gestellt, denn seine Zeitmesser markieren nicht die Gegenwart oder indizieren vergangene Momente. Nein, ihm geht es um die Zukunft – an seinen Uhren kann man ablesen, über wie viel Lebenszeit man mutmasslich noch verfügt.
«Meine Werke sind nicht dem Tod gewidmet, sondern eine Ode an die Lebenszeit.»
Da ist einerseits die digitale «Carpe-Vitam-Clock», welche auf einem kleinen Display die durchschnittlich verbleibenden Lebensjahre der Besitzer:innen – heruntergebrochen auf Sekunden – anzeigt; und da ist andererseits die halb analoge, halb virtuelle «Sanduhr des Lebens», deren fallende Körner Grundbegriffe des Menschseins freigeben. Beide Uhren sind ein permanenter Verweis auf den Ausspruch «Memento mori», mit dem schon im antiken Rom siegreiche Feldherren an deren Sterblichkeit erinnert wurden – und der sich dann als Spiel mit Vanitas-Motiven durch die (Kunst-)Geschichte zog, bis heute.
Hat also eine morbide Todesfaszination den Künstler Jean-Remy von Matt befallen? Mitnichten, sagt dieser: «Wir schätzen das Leben viel zu wenig, wir gehen durch unseren Alltag, als ob wir unbegrenzt viele Momente zur Verfügung hätten», erklärt er, «dabei ist exakt das Gegenteil der Fall.» Käufer:innen seiner Carpe-Vitam-Digitaluhr legt er eine Kopie von Senecas Abhandlung zur Kürze des Lebens bei, ein leidenschaftliches Plädoyer, das Beste aus seiner Zeit zu machen und unwürdige Zeitfresser zu vermeiden. «Meine Werke sind eben nicht dem Tod gewidmet», unterstreicht von Matt, «sondern eine Ode an die Lebenszeit.» Und wenn jemand länger auf der Welt ist, als es der Durchschnittswert auf dem Lebenszeitmesser prognostiziert? Dann beginnt die Uhr, der Person in regelmässigen Intervallen zu gratulieren.
Vom Kindsein zur Unabhängigkeit
Ähnlich verhält es sich bei der Sanduhr, die zwar die unhintergehbare Tatsache offenbart, dass die Zeit eines jeden Menschen verrinnt – und dass im Prozess des Alterns Dinge verloren gehen –, doch die den Betrachter:innen auch neue Einsichten offenlegt. Kindlich-naive Freude mag zunehmend unter dem Sand der Zeit begraben werden, doch dieser Prozess schafft Raum – im Kunstwerk, aber auch metaphorisch – für immer grössere Unabhängigkeit. Nonchalance weicht Selbstbewusstsein, Enthusiasmus wird Gelassenheit, und wenn schliesslich das letzte Körnchen über dem Begriff Zeit an sich zum Liegen kommt, steht gegenüber: die Hoffnung, ganz frei und unverdeckt. Allen Gewissheiten, aller Unausweichlichkeit zum Trotz.
Wie gesagt, das ist Lebens-, nicht Todeskunst, auch weil von Matt in einem Nebensatz erwähnt, dass er für jedes verkaufte Werk 1000 Euro in das Land mit der global niedrigsten Lebenserwartung spendet. Mehr als 50 000 Euro seien dadurch bereits in den Tschad geflossen, an ein Spital, in dem vornehmlich kranke Kinder behandelt werden. Eine wunderbare Dialektik: Eine theoretische Reflexion über die Kürze des Lebens in einem deutschen Wohnzimmer oder einer Schweizer Galerie verlängert praktisch ein Leben auf der anderen Seite des Planeten.
Galerie, Unternehmen, Revolution
Überhaupt, Stichwort Galerie: So wie Markus Lüpertz sich kein Kompliment der von Matt’schen Arbeiten abringen konnte, waren auch etablierte Galerien eher zögerlich, den Ex-Werber ins Portfolio aufzunehmen. «Als Sammler wäre ich bei ihnen herzlich willkommen», merkt er süffisant an, «aber als Künstler? Da verengt sich der Zirkel plötzlich drastisch.»
Die Dynamik änderte sich mit Sarah Schlagenhauf, der treibenden Kraft hinter dem Zürcher Start-up Vivents. Schlagenhauf und ihr Team brechen Barrieren, arbeiten an der Schnittstelle von Kunst, Luxus und Technologie. So hat sich die Unternehmung als Pionier für immersive Web3-zentrierte Markenerlebnisse etabliert, die durch Blockchain-Technologie unterstützt werden. Mit einem Fokus auf Luxus und Kunst im E-Commerce setzt sie modernste Technologien ein, um transformative Erlebnisse zu schaffen.
Existenzielle Fragen
Schlagenhauf, die als junger Mensch («Sie hat noch deutlich über eine Milliarde Sekunden auf ihrer Uhr!», wie Jean-Remy von Matt es charmant ausdrückt) durchaus ein anderes Verhältnis zur Zeit haben könnte als ihr Gegenpart, berichtet auf Nachfrage von einer unmittelbaren Faszination, die von Matts Arbeiten bei ihr ausgelöst hätten. «Ich mache mir tatsächlich sehr viele Gedanken darüber, wie ich die Momente, die mir geschenkt sind, richtig nutze», erklärt sie. Gerade erst habe sie mit Freund:innen darüber diskutiert, ob sie – in Anlehnung an die Werke des Künstlers – eine Weiterentwicklung der Digitaluhr kaufen würde, ein Zeitmessgerät, das nicht nur mit Statistiken jongliert, sondern durch eine Art magische Intuition ihr individuelles Todesdatum kennt. Die Antwort lässt sie offen. Das Besondere an den Carpe-Vitam-Werken sei ja eben, dass sie als konstanter Reminder fungierten, ohne einen absoluten Determinismus zu symbolisieren. Schlagenhauf und von Matt unisono: «Man kann – man darf – man soll die Uhren ‚überwinden‘.» Wer sich gesund ernähre, Sport treibe oder mit dem Rauchen aufhöre, bekomme zwar keinen Bonus auf dem Display, aber (viel besser!) die Chance auf einen solchen in der Realität.
Quo vadis?
Apropos Bonus: Wie geht es nach dem Launch der Sanduhr des Lebens am 11. Oktober 2023 weiter? Welchen Themen will sich von Matt – allenfalls in Kooperation mit Sarah Schlagenhauf und ihrem Team – als Nächstes widmen? «Mich interessieren vor allem die ganz grossen, die ewiglich wirkenden Themen», sagt der Künstler, «und nicht das, was der Zeitgeist anbietet.» Die Erkundung von maximalen Gegensätzen fände er spannend, sagt von Matt, von Licht und Dunkelheit, Wahrheit und Lüge, Dialog und Stille. Zu tun gibt es also genug. «Ich habe für meine Zweitkarriere leider weniger Zeit als andere, die immer schon Kunst gemacht haben», sagt Jean-Remy von Matt abschliessend, «aber wenn ich die Zeit richtig nutze, kann es noch etwas werden.»