Jenseits des Atlantiks: Sigmar Gabriel über den US-Wahlkampf

Gebannt schaut die Welt auf den US-Wahlkampf – und spekuliert darüber, welche Folgen ein Sieg von Donald Trump respektive von Kamala Harris für die internationale Gemeinschaft haben könnte. m&k hat Sigmar Gabriel, Bundesaussenminister a.D. und Vorsitzender der Atlantik-Brücke, um seine Einschätzung gebeten.

(Illustrationen: Silvan Borer)

m&k: Sigmar Gabriel, als Vorsitzender der Atlantik-Brücke leiten Sie eine Institution, die einen enorm vertieften Blick in die Wirkungsweisen der amerikanischen Politik und Gesellschaft erlaubt. Wenn Sie heute auf das Land schauen, sich mit Amerikaner:innen austauschen, reisen … was ist dann Ihr Eindruck vom Zustand, von der Befindlichkeit der USA?

Sigmar Gabriel: Wenn wir über die USA sprechen, müssen wir uns immer vor Augen führen, dass wir keine Vergleiche zu einem Land wie der Schweiz oder Österreich ziehen können, sondern eher zu einem Kontinent wie Europa. Von daher ist es bereits schwierig, zu sagen: die USA … die Regionen, die Meinungen sind enorm unterschiedlich. Damit geht leider einher, dass das Land seit einigen Jahren innerlich tief gespalten ist – nicht nur ökonomisch, sondern eben auch politisch und kulturell, und das ist für uns als Westen insgesamt – für uns als Länder und Staaten, die sich der Aufklärung und dem freiheitlichen Denken verschrieben haben – ein Problem. Die USA sind nämlich bekanntermassen die letzte Führungsmacht, die den normativen Westen verteidigt.

 

Sie sagten gerade, die interne Spaltung in den USA bestehe schon «seit einigen Jahren». Erinnern Sie sich an Momente in der Vergangenheit, in denen Sie merkten: Hier verändert sich etwas – allenfalls bevor andere Menschen das zu erkennen vermochten?

Vor etwa zwei Jahrzehnten hielt ich im University Club in New York City einen Vortrag. Beim anschliessenden Abendessen sass der Herausgeber der «International Herald Tribune» neben mir, die heute zur «New York Times» gehört. Wir sprachen ein wenig miteinander und ich wunderte mich, warum er so ernst wirkte. Also fragte ich ihn. Und er antwortete, ganz spontan: «Ich erkenne mein Land nicht wieder.» Die Vereinigten Staaten von Amerika, sagte er, würden sich dramatisch zum Schlechteren entwickeln; und ich habe – ehrlich gesagt – überhaupt nicht begriffen, was er meinte. New York City war die finale Station meiner Reise, wir waren im Silicon Valley gewesen, ich fand alles fantastisch (lacht). 2009 bildete sich dann die «Tea Party»-Bewegung, und da sah man plötzlich, dass mein Gesprächspartner wohl eine dunkle Vorahnung gehabt hatte. Mittlerweile … gibt es die Republikanische Partei, wie wir sie kannten – eine Partei, die uns oft sogar näher war als die Demokraten, mit Präsidenten, die für Europa, für Deutschland die Hand ins Feuer hielten – praktisch nicht mehr. Es gibt natürlich auch Menschen, die bei diesen Entwicklungen noch viel weiter zurückgehen als zur Formierung der «Tea Party», aber das ist am Ende eine Frage der Interpretation.

«Mittlerweile (…) gibt es die Republikanische Partei, wie wir sie kannten, praktisch nicht mehr.»

 

Wenn wir Ereignisse historischen Ausmasses diskutieren wollen, müssen wir ja gar nicht Jahre zurückgehen – Wochen genügen eigentlich: Denn wir haben in diesem Sommer vieles erlebt, das es in dieser Form noch nie gegeben hat. Wir haben einen amerikanischen Präsidenten Joe Biden gesehen, der relativ kurz vor der «Krönungsmesse» seiner Partei aus dem Wahlkampf ausstieg – und beobachten, wie seine Nachfolgerin Kamala Harris ihren Wahlkampf nun in «Schallgeschwindigkeit» lancieren muss. Wie ist es – Ihrer Einschätzung nach – zu all dem gekommen? Und kann ein Wahlkampf mit so geringem Vorlauf überhaupt Erfolg haben?

Wir müssen uns im Hinblick auf die Chance, die es für eine Wiederwahl Joe Bidens gegeben hätte, zunächst ansehen, wie er beim ersten Mal ins Amt kam. Das waren ganz besondere Umstände: Die Pandemie war noch nicht vorbei, er konnte Wahlkampf von zu Hause aus machen. Und er hat die Wahl 2020 auch nicht mit Millionen Stimmen Vorsprung gewonnen, sondern vor allem mit mehreren Zehntausend Stimmen in wichtigen Swing States. Sie kennen das US-amerikanische Wahlsystem: Es kommt schlussendlich auf die Wahlmänner und -frauen an, die ein Kandidat oder eine Kandidatin hinter sich versammeln können. Hätte Biden auch 2024 nochmal einen knappen Sieg errungen? Das weiss niemand. Es gab ja dann auch noch die Angst vor einem «Erdrutsch», bei dem viele seiner Kolleg:innen im Senat und im Repräsentantenhaus ihre Sitze ebenfalls verlieren – und am Ende wurde alles zu riskant, wurde alles zu viel. Es wurde deutlich, dass er so eine Belastungsprobe nicht mehr durchhalten würde. Das entbehrt nicht einer gewissen Tragik, weil Biden politisch in vielen Bereichen eine bessere Bilanz vorzuweisen hat als Obama; und weil die Menschen mit ihm auch wegen seines persönlichen Schicksals sympathisiert haben. Aber: Es ist aller Ehren wert, dass er sich selbst aus dem Kampf um das höchste, das mächtigste Amt der Welt genommen hat.

 

Ein Wahlkampf in drei Monaten – mit einer Vizepräsidentin, die eher hinter den Kulissen agierte, und einem Gouverneur, der erst noch landesweite Bekanntheit erlangen muss – ist aber auch ein Risiko, oder?

Ich würde erst einmal dagegenhalten, dass ein längerer Wahlkampf nicht unbedingt besser sein muss – der kann auch an den Kräften zehren, es können Fehler passieren, die globale Lage kann sich verändern. Also, ich glaube, was die Demokraten jetzt schon erreicht haben, ist, dass das Rennen wieder offen ist. Es wäre deshalb viel zu früh, irgendwelche Prognosen abzugeben – Trump kann wiedergewählt werden, Harris kann gewinnen. Strategisch ist sie einfach, das muss ich sagen, das perfekte Gegenbild zu ihm: Frau – Mann, farbig – weiss, Staatsanwältin – Angeklagter (lacht) … und aus diesem Konflikt entsteht Kommunikation, entsteht Aussenwirkung. Die Leute müssen klare Unterschiede sehen, sonst interessiert sich niemand für den Wahlkampf. Und Tim Walz … gut, Sie haben recht, der hatte bisher keine nationale Bühne, aber auch er ist strategisch hervorragend gewählt. Er ist wiederum ganz anders als Harris, wirkt hemdsärmelig, volksnah, trotzdem klar in seinen Überzeugungen. Interessant finde ich übrigens, dass man über ihn oft sagt, dass er «die Sprache der Leute spreche» – das impliziert ja, dass Politiker:innen sich in der Regel eher kompliziert ausdrücken (lacht). Walz adressiert Gruppen von Menschen, die Harris vielleicht nicht erreicht – anders als JD Vance, der einfach nur eine schlechte Kopie von Donald Trump ist. Vance bietet insofern keinerlei Mehrwert; anders als Mike Pence damals.

 

Sie selbst haben 2017 auf eine Kanzlerkandidatur verzichtet – und parallel den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland abgegeben. Auch wenn die Umstände anders waren: Konnten Sie Joe Bidens Ringen mit sich selbst, mit seinen Kritiker:innen auch aus Ihren Erfahrungen in der Spitzenpolitik nachvollziehen?

Im konkreten Fall glaube ich, dass wahrscheinlich schon Menschen zu ihm hingegangen sind – ihn angerufen haben – und ihm unter vier Augen gesagt haben: «Achtung, das geht schief.» Aber das dürfte für lange Zeit nicht sein engster Kreis gewesen sein. In einer Position wie jener von Joe Biden sind Sie ja von einer «Bubble» umgeben, die aus Leuten besteht, die alle beruflich von Ihnen abhängen – und deren Macht ebenfalls infrage steht, wenn Ihre Macht schwindet. Und diese Leute sagen ständig: «Du bist ein toller Typ, du machst das super!» Eigentlich verfolgen die Protagonist:innen in der «Bubble» opportunistische Ziele, aber sie lassen es natürlich anders aussehen. Und das erklärt in Teilen wohl, dass er so lange mit sich gerungen hat, obwohl der Druck der Partei und der Medien immer stärker wurde. Deswegen meinte ich gerade auch, es sei sehr ehrenwert, wie er sich am Ende entschieden hat. Es ist eine beinahe übermenschliche Objektivität sich selbst gegenüber nötig, um so eine Art von Macht loszulassen. Und im Idealfall hat man ein paar echte Freundinnen und Freunde – die sind in der Politik übrigens selten! – und Familienmitglieder, die es wirklich gut meinen und die beraten, die da sind, die unvoreingenommen an die Angelegenheit herangehen. Alles in allem ist er gut aus der Sache herausgekommen, denke ich. Es gibt viel schlimmere Prozesse in der Politik – die ich in der SPD auch miterleben musste, am eigenen Leib und bei anderen –, wo hinter dem Rücken die Messer gewetzt werden und kaum sind Sie zur Tür raus, wird an Ihrem Karriereende gebastelt. Die Politik ist immer in der Lage, das Beste in den Menschen hervorzubringen … oder das Schlechteste.

«Die Leute müssen klare Unterschiede sehen, sonst interessiert sich niemand für den Wahlkampf.»

 

Medien vereinfachen gerne – «Trump wäre schlecht, Harris wäre gut» ist das dominierende Narrativ in der Berichterstattung im deutschsprachigen Raum, wenn es um die kommenden US-Wahlen geht. Ich muss gestehen, dass ich das selbst ähnlich empfinde, aber: Machen wir es uns mit diesem Narrativ zu einfach?

Ja, wir machen es uns viel zu einfach. Wir diskutieren seit geraumer Zeit ausschliesslich über die Frage, wer im Oval Office sitzen wird – und natürlich gibt es grosse Unterschiede: Kamala Harris glaubt, dass die USA auch im 21. Jahrhundert Verbündete brauchen, Donald Trump hält das alles für grossen Quatsch. Er sieht sich als «Dealmaker»; ist der Auffassung, dass die grossen Jungs sich an einen Tisch setzen und das Weltgeschehen bestimmen … während die anderen sehen müssen, wie sie klarkommen. Für Europa steht eine Menge auf dem Spiel, wenn es um die Frage geht, wie kompromissbereit, wie verhandlungswillig die USA sind … und da greift das von Ihnen beschriebene Narrativ wohl noch. Was aber zu viele Menschen nicht sehen, ist, dass die USA – egal, ob mit Trump oder mit Harris – ihre Aufmerksamkeit zunehmend in den Indopazifik verlagern. Ganz egal, wer ins Weisse Haus einzieht, das ist ein Trend, der sich fortsetzen wird. Deswegen wollen die USA in Europa und Afrika entlastet werden, wollen, dass wir mehr Aufgaben übernehmen. Die Lage wäre vielleicht anders, wenn Deutsche und Österreicher nicht den Riesenfehler gemacht hätten, das vor einigen Jahren mögliche Freihandels-abkommen mit den Amerikanern zu torpedieren … da war ein kleines Fenster offen, das sich aber längst wieder geschlossen hat. Das hätte für eine verstärkte dauerhafte Bindung gesorgt.

 

Sie sagen, die zukünftige US-Regierung würde von uns Entlastung in Europa und in Afrika erwarten – egal, ob Donald Trump oder Kamala Harris die Wahl gewinnt. Welche Erwartungen hätten die USA an Europa, wenn es um das Verhältnis zu China geht?

Ich bin mir sehr sicher, dass man aus Washington fordern wird, dass Europa in einen viel härteren Konflikt mit China geht – was für uns ein grosses Problem darstellt. Das ist fundamental anders als bei Russland, von wo wir Erdgas und Erdöl bezogen haben, dem wir aber ansonsten wirtschaftlich weit überlegen sind. China dagegen ist der Europäischen Union in vielerlei Hinsicht ebenbürtig, in mancherlei Hinsicht sogar voraus. Eine Art … «Frenemy», ein wirtschaftlicher Partner, aber ein politischer Gegner. Für die USA ist Kooperation mit China weit weniger bedeutsam als für uns, deswegen legt Washington den Fokus primär auf die Rivalität um die globale Vorherrschaft. Und da wird es natürlich nicht goutiert, wenn wir enge ökonomische Bande mit Peking knüpfen. Da riskieren wir, salopp gesagt, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu China eines Tages ein «neues Nordstream 2» werden.

 

Das alles klingt, als kämen auf Europa unruhige Zeiten zu.

Ja. Weil wir am Ende einer Periode sind, die durch die Hoffnung auf Globalisierung, auf Freihandel, auf die Reduktion politischer Konflikte geprägt war. Was nun folgt, ist ungewiss. Statt mehr Frieden erleben wir mehr Krieg, statt mehr Zusammenarbeit erleben wir die Rückkehr des Protektionismus. Das ist an sich ja paradox, weil es noch nie so viele Herausforderungen gab, die sich nur im Verbund lösen liessen – aber die internationale Politik und die Realität laufen in entgegengesetzte Richtungen. Es ist auch eine Art «Nord-Süd-Trennung» entstanden, in der der globale Süden den Führungsanspruch des Nordens nicht mehr akzeptiert. Wenn wir ankommen und darum bitten, dass man uns im Kampf gegen Russland in der Ukraine unterstützt, heisst es: «Aha, nun sollen wir helfen – aber wenn bei uns 100 000 Menschen sterben, weil ein Krieg ausbricht oder es eine Hungersnot gibt, dann ist euch das egal.» Viele Staatenlenker:innen in der bezeichneten Region finden es auch nicht gut, was gerade in Osteuropa passiert – sie wollen auch nicht von China oder Russland beherrscht werden – aber sie üben sich in Zurückhaltung. Wie wir damit umgehen, werden wir mit den USA diskutieren müssen; das wird uns einiges abverlangen.

 

Ich möchte Sie als erfahrenen Aussenpolitiker gern noch um einen Kommentar zu einem weiteren populären Narrativ bitten: Ist Donald Trump wirklich der Isolationist, als der er generell bezeichnet wird?

Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff auf ihn zutrifft. Schauen Sie, er mischt sich ja ordentlich ein, er macht das nur … anders. Bei ihm gibt es eine Konstante, die uns auch beruhigen kann: Trotz aller Rhetorik hat er in vier Jahren im Amt keinen Krieg angezettelt. Ich weiss noch, wie er über Nordkorea geredet hat. «Fire and fury» wollte er auf das Land regnen lassen. Was hat er schlussendlich getan? Er ist hingefahren und hat sich mit dem Diktator getroffen. Da ist zwar nichts dabei herausgekommen, aber zumindest auch nicht das, was viele befürchtet haben. Oder 2019, als Iran die saudische Ölindustrie mit Marschflugkörpern und Drohnen ins Visier genommen hat – da hofften wohl einige Offizielle in Saudi-Arabien, dass die verbündeten USA es Iran «so richtig zeigen» würden. Es wurde dann ein iranischer General im Irak gezielt ins Visier genommen, und dabei blieb es. Trump ist skeptisch, wenn es um den Einsatz des Militärs geht; er hat schon – ausgerechnet! – in einem «Playboy»-Interview in den 1980er-Jahren gesagt, dass er das Eskalationspotenzial von Konflikten zwischen nuklear bewaffneten Staaten fürchte. Aber er ist durchaus parteiisch, er zettelt Handelskriege an … die Bezeichnung «Isolationist» greift mir daher zu kurz. Und noch etwas: Politiker:innen, die sich gegen den Einsatz amerikanischer Truppen im Ausland engagieren, finden Sie auch auf der linken Seite des politischen Spektrums. Bernie Sanders ist ein gutes Beispiel.

 

Denken Sie, Donald Trump würde aus der NATO austreten, wenn er die Wahlen im November gewinnt?

Nein. Das kann er gar nicht. Die grosse Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung – und der politischen Führung über beide grossen Parteien hinweg – befürwortet die NATO. Er muss aber gar nicht aussteigen, um dem Bündnis zu schaden. Schon die Zweifel, die er immer wieder äussert, können auf jemanden wie Wladimir Putin wie eine Einladung wirken und damit riesigen Schaden anrichten.

 

Sie glauben also nicht, dass Putin nach einem Ende des Ukrainekrieges haltmacht?

Ich gehöre zu denen, die sich in Russland und in der Politik von Wladimir Putin einmal richtig getäuscht haben – diesen Fehler würde ich ungern ein zweites Mal machen. Ich habe früher geglaubt, wir fänden einen Weg, mit ihm zurechtzukommen, aber er hat offensichtlich die Vorstellung, er müsse Russland zu «alter Grösse» führen. Das ist nicht einfach die Sowjetunion, das ist das Zarenreich … und eine erfolgreiche, moderne, demokratische Ukraine in der unmittelbaren Nachbarschaft passt nicht in sein Konzept. Also führt er Krieg. Putin sieht, dass die Welt im Umbruch ist. Er sieht, dass die Ordnung, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert haben, zerbricht. Und da will er als Vertreter einer Supermacht auftreten – nicht als Chef einer Öl- und Gastankstelle. Das ist sein Motiv.

 

Vor einigen Monaten sprach ich mit A. Michael Spence, einem amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger. Er hat zusammen mit Ihrem früheren Kollegen Gordon Brown und dem Ökonomen Mohamed El-Erian ein Buch über die Permakrisen der Gegenwart geschrieben und in unserem Gespräch dafür plädiert, zwischen «den Eisschollen unserer Zeit hin und her zu springen, so gut wir können». Purer Pragmatismus also. Er sagte mir aber auch, Gordon Brown widerspreche ihm stets – man müsse, meine jener, idealistisch sein und neue Institutionen für internationale Zusammenarbeit einsetzen. Wozu tendieren Sie?

Ich frage mich einfach, was das denn für Institutionen sein sollten? Wir in Europa täten gut daran, uns nicht auf irgendwelche Strukturen zu verlassen, die dann am Ende versagen könnten, sondern uns, wo immer es geht, starkzumachen. Ich meine das nicht primär in militärischer Hinsicht, obwohl das ja permanent diskutiert wird … aber es wird noch lange dauern, bis wir in der Lage sind, uns selbst zu verteidigen. Wir haben allerdings etwas anderes, aus dem wir Selbstbewusstsein generieren können: unsere wirtschaftliche Potenz, unsere Innovationsfähigkeit, einen Binnenmarkt, der sich weiter ausbauen lässt. Wir brauchen nicht der Illusion hinterherzulaufen, dass wir «die Vereinigten Staaten von Europa» werden, zumindest nicht zu unseren Lebzeiten …

«Es ist eine beinahe übermenschliche Objektivität sich selbst gegenüber nötig, um so eine Art von Macht loszulassen.»

 

… warum eigentlich nicht? Das wäre doch eine schöne Vorstellung.

Das ist eine ziemlich abgehobene Diskussion, finde ich. Sie werden den Polen nicht erklären können, wieso sie zweihundert Jahre für einen autonomen Nationalstaat gekämpft haben, und auf einmal soll die gute Nachricht der Woche sein: «Wir schaffen ihn zugunsten von Brüssel ab!» Das wird nicht funktionieren. Aber wir können untereinander, miteinander, mehr tun. Wir sollten das – realistische – Potenzial Europas voll ausschöpfen und zusammenhalten, so gut es uns eben möglich ist.

 

Halten Sie Reformen internationaler Institutionen – etwa des UN-Sicherheitsrats – für durchführbar?

Ja, aber da möchte ich noch einmal auf den globalen Süden zu sprechen kommen. Der Sicherheitsrat bildet die Strukturen ab, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrschten. Da sitzen permanente Mitglieder wie Grossbritannien und Frankreich – aber keiner aus Afrika, Lateinamerika oder Indien. Das ist doch absurd! Als der UN-Sicherheitsrat das erste Mal tagte, blickte man auf diese Länder als «Dritte Welt», man kolonialisierte sie … dass sie jetzt mehr Mitsprache in internationalen Institutionen haben möchten, ist für mich absolut verständlich. Wenn man diese Mitsprache gewährleistet, dann funktionieren die Institutionen vielleicht auch wieder besser.

 

Herr Gabriel, zwei Fragen noch zum Ende: Was stimmt Sie aktuell pessimistisch? Und was stimmt Sie optimistisch?

Pessimistisch stimmt mich das Gefühl, dass der Welt die Erinnerung verloren zu gehen scheint, was Kriege bedeuten; was der Zweite Weltkrieg bedeutet hat. Man hat ja fast den Eindruck, dass an vielen Ecken der Welt der nächste Konflikt geradezu herbeigewünscht wird. Furchtbar finde ich, was im Nahen Osten passiert. Furchtbar auch, in welcher Weise da mit einem richtig grossen Krieg gezündelt wird, und natürlich auch die Brutalität, mit der Russland den Krieg gegen die Ukraine führt. Was mich optimistisch stimmt, ist die Erfahrung der Europäischen Union: Das ist ja bisher weltweit das einzige Beispiel, wo es gelungen ist, aus erbitterter Feindschaft und Völkermord in weniger als einer Generation Partnerschaft und Freundschaft werden zu lassen – eigentlich unvorstellbar! Wir sind in weniger als einem Menschenleben von, um es einmal metaphorisch zu sagen, Auschwitz nach Brüssel gelangt. Das zeigt, wozu Menschen fähig sind, wenn sie etwas wirklich wollen und wenn sie mutige politische Anführer:innen haben. Ich glaube nicht, dass nach dem Zweiten Weltkrieg alle begeistert waren, die Deutschen – die gerade noch mordend und brandschatzend durch die Lande gezogen waren – wieder in die Gesellschaft der zivilisierten Staaten aufzunehmen. Da wird es viele Skepsis gegeben haben; aber es gab auch Politiker:innen, die optimistisch waren und denen wir am Ende Jahrzehnte des Friedens verdanken. Meine Hoffnung ist, dass das auch in anderen Teilen der Welt möglich wird.


Sigmar Gabriel ist ein ehemaliger deutscher Politiker und heutiger Berater und Publizist. Er war von November 2009 bis März 2017 Bundesvorsitzender der SPD und von Dezember 2013 bis März 2018 Vizekanzler. Ausserdem hatte er mehrere Ministerämter inne; war unter anderem deutscher Aussenminister. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Atlantik-Brücke, die sich für die deutsch-amerikanische Kooperation in Wirtschaft und Gesellschaft engagiert.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der m&k Printausgabe 8-9/2024.

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