Für wahren Pluralismus
Auch wenn das politische Pendel in Richtung Radikalität schwingt – wir Agenturen müssen dagegenhalten.
Wir leben in bemerkenswerten Zeiten. Am 11. Mai hat mit Nemo die erste, offen nicht-binäre Person in der Geschichte den Eurovision Song Contest gewonnen; die Siegeshymne «The Code» nahm dabei inhaltlich vorweg, was Millionen von Europäer:innen durch ihr Votum bestätigten: «I broke the code (…). I just gave it some time, now I found paradise.» Nemos Triumph: ein Zeichen für Progressivität, für Fortschritt, für Toleranz. Und das sage ich als jemand, der sich dem Spektakel des Eurovision Song Contest bislang bewusst entzogen hat.
Am 9. Juni fand eine weitere, europäische Abstimmung statt – die Wahl des EU-Parlaments, mit bedrückenden Erfolgen für rechte bis rechtsextreme Kräfte; für Grenzschliesser:innen, Abschieber:innen, Populist:innen. Ihr Erfolg: ein Zeichen für dunklen Konservatismus, für Rückschritt, für Intoleranz.
Polarisierung bis zur Implosion?
Bemerkenswerte Zeiten. Denn – zwar aus der Schweiz heraus, aber als überzeugter Europäer – kann ich nicht umhin, mich zu fragen: Wie mögen diese «zwei Europas» weiter koexistieren, ohne dass die Union an ihrer Polarisierung zugrunde geht (die Frage können Sie auch auf die USA übertragen, mit leicht anderen Variablen in der Gleichung)? Zwar gibt es unzählige Menschen, die Nemo bejubeln – doch offenbar ähnlich viele, die sagen: «Wir erkennen die Freiheit zur Selbstbestimmung nicht an. Wir wählen Parteien, die dagegen kämpfen.» Wer den Intoleranten allerdings widerspricht, wird prompt selbst für intolerant erklärt: «Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, oder?!» Nein, darf man nicht. Meinungsfreiheit endet dort, wo die Freiheit von anderen angegriffen ist. Die Bannerträger der Intoleranz fordern für sich nur so lange Meinungsfreiheit, bis sie den Diskurs übernehmen – dann ist es damit ganz schnell vorbei; historische Beispiele gibt es zur Genüge.
An der vordersten Front
Deswegen müssen wir jetzt Verantwortung übernehmen. Als Agenturen stehen wir an der vordersten Front gesellschaftlicher Veränderung. Wir begleiten Trends nicht nur – wir setzen Trends auch. Zumindest, wenn wir uns nicht nur als Erfüllungsgehilf:innen, sondern als Agent:innen unserer Klient:innen begreifen. Wenn wir ihnen sagen: «Vor unserer Haustür beginnt gerade etwas. Aber Ihr habt die Macht, darauf einzuwirken, wie es endet.» Damit geben wir ein Statement ab: jenes, dass Werbung politisch zu sein habe. Das mag bei manchen Kolleg:innen Ablehnung evozieren, doch gerade sie frage ich: Was ist denn heute nicht politisch? Anders als bei Journalist:innen ist es nicht nur unsere Aufgabe, zu sagen, was ist – sondern auch zu sagen, was sein soll. Wir müssen allen – gerade auch jenen, die als «Minderheiten» gelten – in unseren Aktivitäten ein Sichtbarkeit bieten. Wir müssen Claims und Kampagnen inklusiv gestalten; so lange demonstrieren, wie bunt und vielfältig die Gesellschaft ist, bis sich niemand mehr wundert, warum wir Familien mit Migrationshintergrund beim Grillen oder gleichgeschlechtliche Paare beim Autokauf zeigen. Sonst sind Pluralität und Offenheit bald wenig mehr als eine Erinnerung – eine Erinnerung an bemerkenswerte Zeiten.
* Dr. Alexander Haldemann ist CEO der Publicis Groupe Switzerland.
Die Kolumne erschien zuerst in der m&k Printausgabe 6-7/2024.