Tiefstapeln ist erlaubt
Was die beglaubigten Auflagezahlen aussagen – und was nicht
Fall 1: Der Titel X wurde vor fünf Jahren lanciert und verzeichnete im ersten Jahr durchschnittlich 50000 bezahlte Abos. Deren Zahl nahm im zweiten Jahr weiter auf 58000 zu, nach dem dritten Jahr waren es 64000, nach dem vierten 68000, heute sind es 70000 bezahlte Abos. Obwohl diese Zahlen der effktiv verkauften Auflage entsprechen, wies die Wemf für den fiktiven Titel in allen Jahren tiefere Werte aus – auf Wunsch des weitsichtigen Verlagsleiters Heini Müllermeier.
Demgemäss stieg die offiziell beglaubigte Auflage von anfänglich 44000 in regelmässigen 6000er-Schritten auf heute 68000 verkaufte Exemplare. Müllermeiers Kalkül ging auf: Dank des anfänglichen Tiefstapelns konnte er die langsam abflachende Wachstumskurve von X kaschieren – aus marketingstrategischen Gründen.
Auch wenn er von nun an auf die effektiven Zahlen wird umschwenken und somit eine Marktsättigung zugeben müssen, werden er und sein Titel künftig mit dem Attribut «erfolgreich» versehen.
Christel Plöger, oberste Auflagenbeglaubigerin bei der Wemf, bestätigt, dass solches Gebaren möglich ist. «Es ist nirgends festgelegt, dass die effektiv verkaufte Auflage beglaubigt werden muss. Aber die beglaubigte Auflage muss effektiv vorhanden sein», sagt sie. Bei Neulancierungen oder auch Titelfusionen empfehle sie Verlegern im Übrigen, anfänglich tiefzustapeln.
«Sie verzichten dann zwar auf bestimmte Inserateeinnahmen, doch dafür können sie eine stetig zunehmende Auflage ausweisen.» Es gebe Titel, die bis zu 50 Prozent tiefstapeln, weiss Plöger. Bei den grösseren, von der WerbeWoche aufgelisteten Titeln würden sich die heftigsten Tiefstapler aber maximal 5 bis 10 Prozent unter ihrem Wert verkaufen.
Damit nicht genug: Die beglaubigte «verkaufte Auflage» kann gemäss Wemf-Bestimmungen auch Gratisabos enthalten, sofern diese nicht mehr als 5 Prozent der bezahlten Abos überschreiten (siehe Kasten).
Realität ist, was ich als
Wirklichkeit verkaufe
Fall 2: Titel Y ist seit Jahren auf dem Markt, die beglaubigte Auflage ist stabil und liegt bei rund 120000 Exemplaren. Die ausgewiesenen Schwankungen bewegen sich im Bereich plus/minus 1000 Exemplare (rund 1 Prozent). Tatsächlich präsentiert sich die Situation für Verlagsleiterin Heidi Meiermüllerin aber wesentlich turbulenter: Die effektiv verkaufte Auflage liegt je nach Jahr mal bei 115000, mal bei 121000 und dann wieder bei 119000 Exemplaren. Meiermüllerin hat bei der Beglaubigung die ihr zustehenden 5 Prozent Gratisabonnemente mal mehr, mal weniger ausgeschöpft und konnte so über längere Zeit eine angeblich stabile Auflage ausweisen.
Vermitteln denn die von der Wemf erhobenen Auflagen noch ein realitätsgetreues Bild? Christel Plöger lacht. «Wo haben Sie denn heute noch ein wahrheitsgetreues Bild der Realität?», fragt sie. «Es versucht sich jeder so durchzuschlagen, wie es für ihn am besten ist. So lange dies innerhalb unserer Bestimmungen geschieht, ist dies legitim.»
Was die Wemf als «verkaufte Auflage» beglaubigt
Die von der Wemf beglaubigte «verkaufte Auflage» einer Zeitung kann sich bei verbandsunabhängigen Titeln wie folgt zusammensetzen:1. voll bezahlte oder maximal um 50 Prozent ermässigte Abos im In- und Ausland
2. Schnupperabos, die maximal um 50 Prozent ermässigt sind. Die angerechnete Zahl wird gemessen an der Abodauer, auf ein Jahr umgerechnet
3. Effektiv über Kioske, Automaten verkaufte Exemplare
4. Abos für das eigene, fest angestellte Personal
5. Gratisabos, die regelmässig an Schulen, Altersheime, Inseratekunden, freie Mitarbeiter und andere mehr geliefert werden. Diese Abos dürfen aber
5 Prozent der Summe der Punkte 1 bis 4 nicht überschreiten. Was darüber hinaus geht, wird zur nicht beglaubigten Gratisauflage gerechnet.
Verleger müssen der Wemf zwar alle diese Zahlen vorweisen, sie können aber frei entscheiden, was und wie viel davon sie beglaubigen lassen wollen.
die elemente der Wemf-Auflage
Gratisabos (max. 5%
der anderen Auflagenelemente)
Abos für firmeneigenes PersonalEinzelverkauf (Kiosk + Automaten)
bezahlte Schnupperabosbezahlte Abos im Ausland
bezahlte Abos im InlandKommentar Wie viel
Boulevard darf es denn sein?
Zuerst wurde der Chefredaktor von dimanche.ch, Jean-Philippe Ceppi, «freigestellt» und durch Jacques Pilet ersetzt (Ringier). Und beim Le Matin wurde Chefredaktor Daniel Pillard weggemobbt. Ersetzt wurde er durch Theo Bouchat (Edipresse). Die Westschweizer Presse sucht verzweifelt Chefs.
Die Auseinandersetzungen kreisen um die Grundfrage: Wie viel Boulevard darf/soll/ muss sein? Le Matin und dimanche.ch wollen Zeitungen für den Mann (die Frau) auf dem Boulevard und im Bistrot machen. Beide kommen aber so anständig daher, dass es zum Verzweifeln ist. Nur die verwegensten unter den Journalisten getrauen sich, bisweilen nach Zürich zu verweisen. Nur, das darf man in der Romandie nicht. Will sich ein Chef abservieren lassen, reicht es, wenn er sagt, man solle doch mal einen Blick auf den Blick werfen.
Was den welschen Medien fehlt, ist der Mut zum schlechten Geschmack. Ich bin und will kein Boulevardjournalist sein. Aber wenn ich sehe, wie mir Kollege Bernhard Weissberg tief in die Augen sieht und er einen Kommentar zu der vom SoBli hoch gefahrenen Meier-Schatz-Story mit «Verlorenes Spiel der Heuchler» überschreibt, muss ich sagen: Chapeau, cher confrère!
Ist es Boulevard, hat es doch Methode. Christophe Büchi