Acht Wochen Ferien: Kann das gutgehen?
2023 sorgte die St. Galler Werbeagentur Vitamin 2 für Aufsehen – mit der Ankündigung, ihren Mitarbeitenden künftig acht Wochen Ferien pro Jahr zu gewähren. Und dies bei vollem Lohn. Nun ziehen die Verantwortlichen Bilanz.
Es ist nichts Neues. Neu ist einzig, dass die Zahlen stetig an Brisanz zulegen: Der Spagat zwischen Beruf und Privatleben stresst – und macht krank. In Zahlen: 39% aller Ursachen für Arbeitsunfähigkeit sind heute Stress-bezogen, wie die aktuelle Stressstudie von Swisslife zeigt. Entsprechend hoch ist die Sensibilität bei Stellensuchenden. Angebote für das psychische Wohlbefinden (79%) sowie flexible Arbeitsbedingungen (74%) gehören zu den Top 3 Kriterien bei der Jobsuche, wie die Candidate Pulse Studie 2024 von Michael Page herausgefunden hat.
Die Realität sieht freilich anders aus. Erst 27% aller Arbeitgebenden haben Massnahmen zur Unterstützung ihrer Mitarbeitenden ergriffen. Als Beispiel voran geht die Kommunikationsagentur Vitamin 2. Vor über einem Jahr lancierten die St.Galler ein neues Arbeits-Ferienmodell. Statt der üblichen fünf Wochen erhöhten sie das Ferienguthaben auf acht Wochen, wovon vier an einem Stück als «Reifezeit» zu beziehen sind. «Damit wollen wir erreichen, dass unsere Mitarbeitenden mindestens einmal im Jahr den Kopf so richtig freikriegen, sich erholen können und Zeit für Dinge haben, die im Alltag häufig zu kurz kommen», erklärt René Kappeler, Gründer und Partner bei Vitamin 2.
Zeit für Reisen, Familie – und Herzensprojekte
Das Experiment wurde auf zwei Jahre ausgelegt. Nach dem ersten Jahr zieht die St.Galler Kreativagentur mit rund 30 Mitarbeitenden nun eine erste Zwischenbilanz. Was wenig überrascht: Im Team steht das neue Modell hoch im Kurs: Die Bewertung mit 2,96 aus 3 möglichen Punkten beweist die hohe Akzeptanz. Was aber stellten die Menschen bei Vitamin 2 mit ihrer Reifezeit an?
85% der Mitarbeitenden gingen auf Reisen und sammelten neue Erfahrungen. 76% gaben zudem an, mehr Zeit mit Familie und Freunden verbracht zu haben. 33% setzten eigene Projekte um und 5% investierten ihre Reifezeit in Weiterbildung. Einig waren sich praktisch alle. Das neue Modell half ihnen, mental abzuschalten (95%) und sich körperlich zu erholen (80%). Und fast die Hälfte gab an, dass die schöpferische Pause ihnen zu einem vertieften Verständnis ihrer Bedürfnisse und Stärken verhalf. «Diese Selbstreflexion ist letztlich die Basis für persönliches Wachstum und ein erfüllteres Leben», zeigt sich Jan Hasler, Partner und Berater bei Vitamin 2, überzeugt. «Das macht uns menschlich, aber auch als Agentur stärker».
Auszeit als Kraftquelle – und Herausforderung
Dass der Effekte von acht Wochen Ferien für Mitarbeitende positiv ausfällt, war zu erwarten. Aber hält der Effekt auch später im Alltag weiter an? 45% gaben an, dass es ihnen heute besser gelingt, eine ausgewogenere Work-Life-Balance zu leben. Ein Drittel fühlt sich motivierter und 20% stellten sogar eine Steigerung ihrer Kreativität fest. Nur 10% stresste der Wiedereinstieg in den Alltag nach den vier Wochen Pause.
Alles eitel Sonnenschein? Nicht ganz. Vorbereitungszeit und Übergaben vor der einmonatigen Abwesenheit haben es in sich. Denn damit Stellvertreter:innen Projekte nahtlos weiterführen konnten, muss ein detaillierter Informationsfluss gewährleistet sein. Das erfordert einen Extra-Effort, der neben dem laufenden Tagesgeschäft geleistet werden muss. Nach ersten Negativ-Feedbacks innerhalb des Teams reagierte Vitamin 2 und unterstützte den Prozess fortan mit einem entsprechenden Projekt-Tool. Dennoch blieb diese Phase für 47% der Mitarbeitenden eine Herausforderung. Allerdings eine, die das Team gerne annahm. «Unsere Leute zeigten sich enorm solidarisch und die Tatsache, dass wir uns gegenseitig die einmonatige Reifezeit ermöglichen, liess uns auch als Team näher zusammenrücken», stellt Ramon Lenherr, Partner und Kreationsleiter, fest.
Kaum Fluktuationen. Und der Geschäftsgang?
Wie aber wirkte sich das neue Arbeits-Ferienmodell auf Agentur, Kundenbeziehungen und Geschäftsgang aus? Was auffällt. Die Fluktuationen, die bei Kommunikationsagenturen generell hoch sind, konnten von 10 Abgängen im Vorjahr auf eine reduziert werden. Von dieser höheren Konstanz profitieren letztlich Agentur und Kunden gleichermassen. Was auch erklärt, dass trotz reduzierter Anwesenheit der Mitarbeitenden der Umsatz des Vorjahres praktisch gehalten werden konnte. «Wenn wir berücksichtigen, dass wir im ersten Jahr viele Learnings gemacht sowie Prozesse optimiert haben, sind wir zuversichtlich, dass wir in den kommenden Jahren mit unserem Arbeits-Ferienmodell operativ noch besser abschneiden können», zeigen sich die drei Partner Kappeler, Hasler und Lenherr zuversichtlich.
Von Kundenseiten gab es bislang keine negativen Rückmeldungen. «Das neue Arbeits- und Ferienmodell gibt natürlich zu reden. Aber ganz anders, als wir es erwartet haben», erklärt Fabian Bucher, Mitglied der Geschäftsleitung. «Viele unserer Kunden hat es inspiriert und motiviert, selbst über ihre eigenen Mitarbeitenden-Benefits nachzudenken. Das macht uns natürlich auch etwas stolz».
Basierend auf den Resultaten der ersten Bilanz stehen die Chancen gut, dass bei Vitamin 2 das neue Arbeits-Ferienmodell nach der zweijährigen Probezeit weitergeführt wird. Denn die erste Bilanz scheint die These zu bestätigen, dass erholtere Mitarbeitende nicht nur inspirierter, produktiver und loyaler sind. Das Programm mit der vierwöchigen «Reifezeit» macht Vitamin 2 zu Zeiten des Fachkräftemangels auch zu einem Magneten für kreative, hochqualifizierte Menschen.