Wie sich Vertrauen systematisch aufbauen lässt

Unternehmen brauchen Vertrauen, sonst verpufft das Wertangebot. Doch wie lässt sich dieses Vertrauen systematisch aufbauen?

Vertrauen systematisch

Stellen wir uns die folgende Situation vor: Eine Person, die Sie vorher nie getroffen haben, steht vor Ihrer Tür und möchte bei Ihnen übernachten. Würden Sie zustimmen? Vermutlich nicht: Sie wissen nicht, ob Sie der fremden Person vertrauen können. Die Person könnte sich als unangenehmer Gast entpuppen. Oder noch schlimmer: Als Serienkiller. Trotzdem hat es das US-Unternehmen Airbnb geschafft, dass sich seine User in den letzten 13 Jahren mehr als 500 Millionen mal genau dafür entschieden haben, eine fremde Person bei sich zu Hause übernachten zu lassen.

Und das mit enormem Erfolg: Das Unternehmen ist mittlerweile mehr als 100 Milliarden US-Dollar wert. Wer die Geschichte des Unternehmens kennt, weiss: Dieses neue Vertrauen zwischen Gastgeber*innen und Reisenden ist alles andere als zufällig entstanden. Stattdessen hat das Unternehmen gemeinsam mit der Harvard Business School akribisch untersucht, wovon das Vertrauen seiner Nutzer*innen abhängt und systematisch die notwendigen Rahmenbedingungen für echtes Vertrauen hergestellt.

Vertrauen entsteht also nicht irgendwie zufällig. Vielmehr ist aus jahrzehntelanger Forschung recht gut bekannt, unter welchen Bedingungen es entstehen kann. Indem Unternehmen die richtigen Voraussetzungen schaffen, können sie die Entstehung von Vertrauen wahrscheinlicher machen. Derartige Vertrauensarbeit lässt sich als Vertrauens-Architektur begreifen: Ähnlich systematisch wie Architekt*innen etwa Brücken und Häuser planen, lässt sich auch die Entwicklung von Vertrauen angehen. Dafür braucht es sowohl psychologisches Wissen über die Determinanten von Vertrauen als auch eine sinnvolle methodische Vorgehensweise.

Die Frage ist nicht, ob wir Vertrauen brauchen, sondern worin

Der Erfolg von Unternehmen hängt massgeblich vom Vertrauen ab, das ihnen entgegengebracht wird. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass wir einander nicht grundsätzlich vertrauen, sondern sehr differenziert. Ein Beispiel: Viele Deutsche werden zustimmen, der  nationalen Post zu vertrauen. Täglich dürfen wir erleben, wie das geschichtsträchtige Unternehmen seine Versprechen hält, indem es unsere Briefe, Dokumente und Pakete verlässlich am vereinbarten Ort abliefert. Das hohe Vertrauen in das Kerngeschäft der Post ist aber nicht ohne Weiteres auf andere Bereiche übertragbar.

So musste die deutsche Post im Januar 2020 den E-Postbrief nach zehn erfolglosen Jahren einstellen. Wir vertrauen der Post zwar, dass sie unsere Briefe verlässlich zustellt – aber offenbar nicht, dass sie dies auch im Digitalkontext schafft. Unternehmen, die an der Entwicklung des Kund*innenvertrauens arbeiten, sollten deshalb möglichst präzise definieren, worin ihnen ihre Kund:innen vertrauen können sollen. Ähnlich wie die Post werden sie dabei in vielen Fällen feststellen: Das heute bestehende Vertrauen ist nicht unbedingt das, was es auch für eine erfolgreiche Zukunft braucht.

Drei Voraussetzungen: Wollen, Können und Einschätzen

Damit echtes Vertrauen zwischen Unternehmen und ihren Kund*innen entstehen kann, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Wollen, Können und Einschätzen. Und auch wirklich nur, wenn alle drei Voraussetzungen erfüllt sind, kann echtes Vertrauen entstehen.

Wollen: Die Geschichte von den guten Absichten

Unternehmen sind dann vertrauenswürdig, wenn sie aus Sicht ihrer Kund:innen das Richtige wollen, also gute Absichten haben. Aus diesem Grund kämpfen teilweise ganze Industrien mit dem Misstrauen ihrer Kund:innen. So etwa die Versicherungsindustrie, die bei Umfragen in puncto Kund*innenmisstrauen regelmässig im negativen Sinne die Bestenlisten anführt. Der Grund, weshalb Kund*innen ihren Versicherern misstrauen, ist dabei nicht darin zu finden, dass die Unternehmen zu schlecht kapitalisiert wären und deshalb um ihre Zahlungsfähigkeit gefürchtet wird. Vielmehr besteht Misstrauen darin, dass sie im Beratungsgespräch oder im Schadenfall wohlwollend und aufrichtig im Sinne des Versicherungsnehmers agieren. Im speziellen Fall der Versicherungen liegt das mitunter an bestehenden Interessenkonflikten. So wird Kund*innen bereits beim Kauf einer Versicherung klar: Je ehrlicher ich diese Gesundheitsfragen beantworte, desto teurer wird die Versicherung. Spätestens im Schadenfall merken sie: Jeder Euro, den die Versicherung für meinen Schaden bezahlt, fehlt dem Unternehmen im Jahresgewinn.

Das finanzielle Interesse von Versicherungsunternehmen ist dem ihrer Kund*innen also häufig genau entgegengesetzt. Vor diesem Hintergrund sollten Unternehmen für nachhaltiges Vertrauen den Fokus ihrer unternehmerischen Arbeit aufrichtig sowie eindeutig erkennbar auf die Bedürfnisse ihrer Kund*Innen legen und darüber hinaus Rahmenbedingungen schaffen, in denen ihre Interessen mit denen ihrer Kund:innen harmonieren. Das macht beispielsweise der US-Versicherer Lemonade erfolgreich vor, dessen Kund*innen im Schadenfall keinen Konflikt mit ihrem Versicherer fürchten müssen: Je weniger Schäden der Versicherer zahlen muss, desto mehr wird gespendet. Der eigene Jahresgewinn bleibt davon aber unabhängig.

Können: Die Fähigkeiten zählen

Unternehmen sind dann vertrauenswürdig, wenn sie über ganz bestimmte Fähigkeiten verfügen und diese wirksam zeigen können. Das leuchtet ein: Gute Absichten alleine reichen eben nicht aus; wir wollen zudem sichergehen, dass das Unternehmen auch liefern kann. Welche spezifischen Kompetenzen ein Unternehmen benötigt, hängt davon ab, worin die Kund*innen ihm vertrauen können sollen: Online-Händlern beispielsweise, dass sie schnell liefern und die bestellte Ware unkompliziert auch wieder zurücknehmen. Oder Herstellern, dass sie hohe Qualität liefern und dabei auf ethische sowie nachhaltige Lieferketten achten. Letztendlich geht es für Unternehmen dabei immer darum, die eigenen (Werte-)Versprechen zu halten – und das möglichst kontinuierlich immer und immer wieder. So zeichnen sich viele der Unternehmen mit einem besonders hohen Mass an Kund*innenvertrauen dadurch aus, dass sie mit ihrem Wertangebot fest im Alltag ihrer Kund*innen verankert sind und täglich aufs Neue zu beweisen können: Wir halten unsere Versprechen. So beispielsweise Detailhändler, die ihre Kund*innen jeden Tag aufs Neue mit den Artikeln des tägliches Bedarfs versorgen und in Vertrauensstudien typischerweise besonders gut abschneiden.

Im Gegensatz dazu kämpfen Unternehmen, deren Angebote seltener genutzt werden und die weniger häufig mit ihren Kund*innen in Kontakt stehen, im Vertrauensspiel unter erschwerten Bedingungen. Sie haben schlichtweg seltener die Chance, ihre Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Denken wir beispielsweise an Stromanbieter, die zwar täglich Strom liefern aber für ihre Kund*innen nur wenige Male im Jahr wahrnehmbar in Erscheinung treten. Diese Unternehmen sollten umso akribischer daran arbeiten, die für das individuell notwendige Kund*innenvertrauen notwendigen Fähigkeiten zu identifizieren, aufzubauen und möglichst schillernd in Szene zu setzen.

Einschätzen: Das richtige Augenmass

Unternehmen sind dann vertrauenswürdig, wenn sie für ihre Kund*innen das Richtige wollen und können. Damit echtes Vertrauen entstehen kann, braucht es darüber hinaus aber eine wesentliche dritte Voraussetzung:  Diese Vertrauenswürdigkeit muss für Kund*innen auch erkennbar werden. Kund*innen müssen Unternehmen also möglichst gut einschätzen können, um ihnen zu vertrauen. Das stellt insbesondere neue und innovative Unternehmen vor Herausforderungen. Denn: Um ein Unternehmen oder Produkt gut einschätzen zu können, hilft es enorm, wenn Kund*innen es bereits kennen. Im Gegensatz dazu ist es schwer, die Vertrauenswürdigkeit eines neuen Produkts oder Unternehmens einzuschätzen, mit dem man noch keine Erfahrungen sammeln konnte.

Zum Glück gibt es wirksame Strategien, mit denen es auch ohne eigene Erfahrungen zu echtem Vertrauen kommen kann. Eine davon wird mit Blick auf die Elektromobilität deutlich: Ende 2020 war das in Europa meistverkaufte Elektroauto eines, das auf den ersten Blick gar nicht so neu aussieht: der VW ID.3. Es handelt sich um ein 100 % elektrisches und damit innen radikal neues Auto. Von aussen aber sieht es vor allem aus wie ein seit Generationen vertrauter VW Golf. Scheinbar finden Kund:innen leichter Vertrauen in eine neue Technologie, wenn zumindest deren Verpackung bereits bekannt ist. Für Unternehmen, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kund*innen etwas ganz Neues ausprobieren, kann es also eine gute Idee sein, nach Verbindungen zu bereits bestehenden Erfahrungen ihrer Kund*innen zu suchen. Eine weitere effektive Alternative zu eigenen Erfahrungen sind die Erfahrungen anderer.

Unternehmen begegnen der Nachfrage nach Erfahrungsberichten und Bewertungen im Internet vor allem durch Bewertungssysteme, die Nutzer*innenerfahrungen abfragen und anderen Nutzer*innen in relevanten Entscheidungssituationen anzeigen. Die enorme Wirksamkeit des Ansatzes zeigt sich beispielsweise bei der bereits eingangs erwähnten Plattform Airbnb. Ihr Reputationssystem schein so gut zu funktionieren, dass es sogar die urmenschliche Tendenz der Nutzer*innen aushebelt, vorzugsweise Personen zu vertrauen, die einem selbst ähnlich sind. Damit echtes Vertrauen entstehen kann, sollten Unternehmen also darauf hinarbeiten, ihren Kund*innen eine möglichst einfache Einschätzung ihrer Vertrauenswürdigkeit zu ermöglichen.

Das Ziel von Vertrauens-Architektur ist Vertrauenswürdigkeit

Für Unternehmen ist Vertrauen ein grundlegender Erfolgsfaktor. Ohne Vertrauen keine Kooperation und ohne Kooperation keine Unternehmung. Die Entwicklung von Vertrauen sollte für Unternehmen dementsprechend an höchster Stelle stehen. Echtes Vertrauen kann aber nur entstehen, wenn Unternehmen nachhaltig im Sinne der Kund*innen handeln und dafür sorgen, dass sich ihr Vertrauen für sie auszahlt. Andersherum: Wenn Vertrauen ausgenutzt wird, wird es im Keim erstickt. Das Ziel sollte hier also nicht Conversion-Optimierung lauten, nicht Umsatzsteigerung und auch nicht Customer Lifetime Value. Das Ziel von Vertrauensarbeit ist die Entwicklung von Vertrauen zwischen Unternehmen und ihren Kund*innen. Und dafür braucht es den festen Willen, sich Kund*innen gegenüber vertrauenswürdig zu verhalten. Dabei muss nachhaltige Vertrauensentwicklung nicht im Wiederspruch mit kurzfristiger Umsatz- oder Wachstumssteigerung stehen. Es gilt, Kund*innenernerlebnisse zu gestalten, die beide Seiten in Einklang bringen: Umsatz und Wachstum auf der einen Seite und Kund*innenvertrauen auf der anderen Seite.


* Eric Eller ist Sozialpsychologe und Senior Managing Consultant bei Elaboratum. Sein neues Buch «VertrauensArchitektur. Wie Vertrauen entsteht und wie Unternehmen die richtigen Kund*innenerlebnisse dafür schaffen» erschien im März 2022 im Vahlen Verlag.

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