Schmutz im Diskurs
Die britische Werbe-Ikone Sir John Hegarty hält die Keynote des DirectDay 2023. Die Besucher:innen dürfen sich auf einen gewohnt pointierten, kritischen Vortrag freuen – wie Sir John im exklusiven Pre-Interview verrät.
m&k: Sir John Hegarty, Sie haben ein paar ereignisreiche Wochen hinter sich: Sie waren in Cannes und haben vor grossem Publikum an einem Kamingespräch teilgenommen; haben eine virtuelle «Summer School» veranstaltet und bereiten eine neue Runde Ihrer Online-Masterclass vor, die im Oktober beginnen soll. Der gemeinsame Nenner bei all Ihren Aktivitäten: Immer geht es um kreative Exzellenz und darum, wie man sich selbiger annähert. Meine erste Frage lautet daher: Wie beurteilen Sie den Status quo kreativer Qualität in der Marketing- und Kommunikationsbranche?
Sir John Hegarty: Wo soll ich anfangen? (lacht) Als ich in Cannes sprach, habe ich versucht, dem Publikum vor allem eines deutlich zu machen: Unsere Industrie – dazu können Sie die Agenturen, aber auch die Auftraggeber:innen zählen – produziert immer mehr mittelmässige, oft sogar wirklich schlechte Arbeit. Wir Menschen werden im Alltag täglich mit Tausenden Informationsschnipseln konfrontiert – die Konsument:innen haben keine Geduld und keine Lust, sich «on top» auch noch mit minderwertiger Werbung zu beschäftigen. Es mag hart klingen, aber: Etliche Agenturen, etliche Verantwortliche in der Marketing- und Kommunikationsbranche tun kaum etwas anderes, als den diskursiven Raum zu verschmutzen. Ich erkenne leider auch kaum ein Bestreben, das zu ändern. Stattdessen wird die Frequenz der Werbung hochgefahren, in der Hoffnung, dass ein Teil des Unsinns hängen bleibt, wenn man nur genügend medialen Druck ausübt.
«Etliche (…) tun kaum etwas anderes, als den diskursiven Raum zu verschmutzen.»
Ein deutliches Verdikt. Haben Sie auch eine Idee, wie sich das Problem lösen liesse?
Sie haben meine Idee in Ihrer ersten Frage vorweggenommen: Wir brauchen eine Rückkehr zu exzellenter, kreativer Arbeit. Jetzt. Anstatt die Menschen mit schlechter Werbung mürbe zu machen, bis sie irgendwann nachgeben, müssen wir Botschaften transportieren, die die Verbraucher:innen tatsächlich hören und sehen wollen. Nachhaltigkeit ist doch mittlerweile in aller Munde. Da stellt sich mir die Frage, warum vielen Agenturen und Auftraggeber:innen scheinbar noch nicht aufgefallen ist, dass sie mit ihrer Werbestrategie nicht nur Zeit und Geld, sondern auch «echte» Energie verschwenden. Nehmen wir an, dass 99 Prozent der Inhalte, die als Werbung ausgespielt werden, keinen Impact generieren – dann ist das nicht nur intellektuelle Umweltverschmutzung, sondern führt letztendlich zu «echter», physischer Umweltverschmutzung.
Eine interessante These: «Kreativität gleich Nachhaltigkeit.»
Ganz genau. Die IAA hat Agenturen neulich fünf Massnahmen vorgeschlagen, mit welchen diese ihren ökologischen Fussabdruck reduzieren können – die Förderung kreativer Exzellenz ist jedoch nicht dabei. Das ist bedauerlich. Denn Botschaften, die ankommen, müssen weniger häufig ausgespielt werden und sind damit in mehrfacher Hinsicht «sustainable».
«Wir brauchen eine Rückkehr zu exzellenter, kreativer Arbeit. Jetzt.»
Woher kommt es, dass heute scheinbar mehr auf KPIs und Klicks geachtet wird als auf Kreativität?
Wir haben schon einige Gespräche miteinander geführt, daher wissen Sie, dass ich das kreative Schaffen schon immer als eine gefährdete Disziplin angesehen habe. Das beginnt mit der Erziehung und Ausbildung unserer Kinder. Wir versuchen, sie bereits in jungen Jahren vom kreativen Denken abzuhalten … und das nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrhunderten. Zunächst lernen Kinder spielend; indem sie die Menschen um sich herum nachahmen, indem sie Bilder malen und ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Dann kommen wir Erwachsene plötzlich mit unserer Idee von «richtiger Bildung» daher und sagen: «Du bist jetzt zehn Jahre alt, hör auf zu spielen und fang an zu zählen – konzentriere dich auf Mathematik, konzentriere dich auf die Naturwissenschaften.» (lacht) Ich weiss, das ist salopp formuliert, aber ich möchte auf etwas hinaus: Wir tun, was wir können, um wunderbare, neugierige, junge Menschen davon zu überzeugen, dass man alles auf der Welt messen müsste. Stattdessen sollten wir ihnen auch Phänomene näherbringen, die sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen – und ihnen Wertschätzung dafür beibringen. Hierin liegt schliesslich die Schönheit des Lebens. Liebe etwa lässt sich nicht besonders gut mathematisch beschreiben. Und doch ist sie allgegenwärtig.
Sie haben mir einmal gesagt, dass der erzwungene Perspektivwechsel via Bildung zu einer regelrechten «Angst» vor kreativem Schaffen führen kann.
Oh, ja. Viele Menschen verstehen Kreativität nicht so recht; sie wissen nicht, wie sie zu einem kreativen – und damit, wenn Sie so wollen – «freien» Mindset gelangen können. Was Menschen nicht verstehen, fürchten sie. Oder lehnen es zumindest ab. Dann wenden sie sich anderen Dingen zu, die greifbarer scheinen als Kreativität. «Überlassen wir die doch den Künstler:innen», sagen die Leute und vergessen dabei, dass wir alle von Natur aus kreativ sind. Wie ich schon erwähnte: Wir werden mit kreativer Kraft geboren, wir haben vielleicht einfach ein paar Dinge «unterwegs» vergessen. Aber wir können uns zum Glück erinnern, wenn wir uns trauen. Ich habe meine eigene, etwas alberne Art, das zu veranschaulichen: Stellen Sie sich vor, ich schenke Ihnen einen Ferrari …
… ich würde ihn nehmen! …
… ich weiss, dass Sie das tun würden, aber für den Moment ist das nur ein Gedankenexperiment. (lacht) Okay, also – ich schenke Ihnen einen wunderschönen roten Ferrari. Ich lasse ihn direkt an Ihre Haustür liefern und gebe Ihnen die Schlüssel. Was machen Sie? Sagen Sie: «Ich bin kein besonders guter Fahrer, schon gar nicht hinter dem Steuer eines solchen Boliden» und schicken den Ferrari retour? Oder sagen Sie: «Ich glaube, ich könnte lernen, die Maschine zu beherrschen, wenn ich ein bisschen Zeit investiere … und dann könnte ich den Spass meines Lebens damit haben»? Sie sehen, wo ich mit dem Vergleich hinmöchte!? Kreativität ist der Ferrari. Sie können auch eine andere Automarke in die Metapher einsetzen, wenn Sie Präferenzen haben, die von meinen abweichen. (lacht)
Agenturen behaupten gerne, dass es vor 30 Jahren viel einfacher gewesen sei, kreativ zu arbeiten. Man habe weniger Plattformen bespielen, weniger auf Diversifizierung der Assets achten müssen. Ist da etwas dran?
Bei all der neuen Technologie, die entwickelt wird, kann ich die Versuchung verstehen, erst einmal abzuwarten; à la: «Wir schauen uns das in Ruhe an, und dann werden wir wieder kreativ!» Aber so funktioniert das nicht. Technologie ist ein Vehikel, ein Gefäss – kein Zweck an sich, kein Inhalt! Der einzige Platz, an dem Werbung wirken muss, ist der Kopf der Rezipient:innen. Ich sehe ein, dass Technologie eine Brücke ist, um dorthin zu gelangen, aber wir brauchen die Brücke deshalb nicht zu glorifizieren. Hier ist der Weg für einmal nicht das Ziel. Wissen Sie: Früher waren die Menschen von Mikrofonen fasziniert oder von Radios oder TV-Geräten. Spricht heute noch jemand darüber, was für eine tolle Erfindung das Mikrofon ist? Nein, aber man spricht über Sinatra, der es sehr effektiv eingesetzt hat. Storytelling und kreative Exzellenz sind so wichtig wie eh und je. Die Mittel mögen sich geändert haben, aber wir Menschen haben uns nicht geändert.
«Technologie ist ein Vehikel – kein Zweck an sich, kein Inhalt!»
Vor einiger Zeit sprachen Sie in einem Vortrag davon, dass kreative Exzellenz ein Standortvorteil sei, und einen solchen brauche Europa. Zumindest, wenn der Kontinent seine Bedeutung auch in der Welt von morgen bewahren wolle. Ist das weiterhin Ihre Überzeugung?
Ja, absolut. Wir werden mittelfristig einfach nicht in der Lage sein, uns gegen Märkte wie die USA oder China durchzusetzen. Und dann sind da noch Indien, Indonesien, die Philippinen … diese Länder haben Ressourcen, sie sind fest entschlossen, sich zu entwickeln, und sie haben Zugang zu einer Fülle von Billiglöhner:innen. Ich behaupte nicht, dass Letzteres etwas Gutes ist, aber es ist nun einmal Fakt. Was haben wir Europäer? Wir besitzen Imagination, Kultur und Geschichte. Das ist alles. Aber das kann ausreichen, wenn wir die Assets richtig nutzen. Wir müssen unser kreatives Potenzial exportieren; in eine Welt, die dringend nach neuen Ideen sucht. Das ist die beste Chance, die wir haben.
Als Sie 1982 TBWA in London verliessen, um Barton Bogle Hegarty zu gründen, gingen Sie und Ihre Kollegen erhebliche wirtschaftliche Risiken ein – aus Überzeugung. Glauben Sie, dass die heutige Generation junger Werber:innen ebenso risikofreudig ist … oder ist der Wunsch, die Branche grundlegend zu verändern, generell schwächer geworden?
Das ist eine interessante Frage. Wenn wir uns die grossen kreativen Bewegungen der Vergangenheit anschauen – ich denke da an Bauhaus, an Pop-Art etc. –, dann waren dort in der Regel Leute, die den Ist-Zustand hinterfragten, die treibende Kraft. Gleiches mag für Werbeagenturen im 20. Jahrhundert gegolten haben. Heute mangelt es vielen wohl an der Lust und an dem Willen, etwas zu verändern. Nicht nur, aber auch in der Werbung. Ich frage mich manchmal, wo der «Hunger» geblieben ist. Gleichzeitig muss ich den Nachwuchs in Schutz nehmen: Technologie hat die Art, wie junge Menschen in Agenturen zusammenarbeiten, fundamental verändert. Die Fragmentierung ist viel grösser, die Teamkultur ist ganz anders als bei uns damals. Die Maxime lautet nicht mehr: «Versammelt alle um eine grossartige Idee!», sondern: «Person A ist für Social Media zuständig, Person B für Aktivierung und Person C für Beratung.» Ausserhalb von durchgetakteten Gruppen-Meetings und Pitches findet weniger Austausch statt. Da ist es schwerer, zu merken, dass um einen herum Menschen sind, die so schrankenlos denken wie man selbst … und mit denen man eventuell ein neues Business aufziehen könnte.
Die Werbung hat ihre erste – sehr erfolgreiche – «kreative Revolution» in den 1960er-Jahren erlebt. Glauben Sie, dass eine zweite «kreative Revolution» möglich ist?
Noch einmal: Die Methoden und Plattformen mögen sich ändern, aber kreative Exzellenz und hervorragendes Storytelling werden niemals an Bedeutung verlieren. Ich glaube, wir verstehen noch gar nicht, wie wir diese beiden Tugenden wirklich in den digitalen Raum übertragen sollen. Deshalb würde ich meine jüngeren Kolleg:innen ermutigen, sich damit zu beschäftigen. Wir haben Storytelling aus den Zeitungen in die TV-Geräte gebracht, eine eigene Form dafür gefunden, aber haben wir das auch bei Social Media geschafft? Oder haben wir da gesagt – und ich verwende erneut bewusst eine Vereinfachung: «Wir tun in etwa das Gleiche wie beim Fernsehen, aber wir machen die Clips einfach kürzer, kürzer, kürzer»? Es gibt ja die Theorie, dass die Aufmerksamkeitsspanne junger Menschen de facto nach jeweils anderthalb Sekunden ende und man sie entweder da «packen» müsse – oder sie verlieren würde. Ich vermag das nicht zu widerlegen, ich kann allerdings sagen, dass es auch Beispiele gibt, die in eine andere Richtung weisen. Kennen Sie «The Killing»?
Nein, da habe ich eine Wissenslücke.
Diese TV-Show hat nicht nur das Genre der Nordic-Noir-Krimiserien begründet, sie war auch in mehreren Ländern insbesondere bei jüngeren Zuschauer:innen ein enormer Erfolg. Ich betone das aus einem speziellen Grund: Jede Staffel umfasst zwanzig Episoden, und pro Staffel geschieht nur ein einziger Mord. Wenn das kein extensiver Spannungsbogen ist, dann weiss ich auch nicht. (lacht) Trotzdem – oder gerade deswegen – hat die Serie das Publikum begeistert. Vielleicht können wir bald wieder längere Geschichten, bessere Geschichten, komplexere Geschichten auf allen Plattformen erzählen … wir müssen nur noch herausfinden, wie.
«Vielleicht können wir bald wieder längere, bessere, komplexere Geschichten erzählen.»
Wir haben viel über Werbeagenturen gesprochen, aber wenn es darum geht, kreative Spitzenleistungen zu erbringen, müssen auch CMOs, CEOs und Co. in die Pflicht genommen werden, oder?
Ganz sicher, und das führt mich zurück zum ökologischen Fussabdruck der Werbung. Ich höre oft von CMOs, sie würden zwar gerne mal ein bisschen mehr Kreativität wagen, aber sie hätten nicht die nötige Autorität – und ihr CEO wolle immer «Beweise», dass das Marketing «funktioniert». Okay, meinetwegen. Vielleicht müssen wir dann neue Metriken einführen? Metriken, mit denen Marketer nachweisen können, dass eine Kampagne nur halb so viel Energie wie die vorherige benötigt hat, um das gleiche Ergebnis zu erzielen?! Und das alles dank kreativer Exzellenz und einem Storytelling, welches aus der Masse hervorsticht. Das dürfte auch den CEOs einleuchten.
Glauben Sie wirklich?
Ja, und jedes andere Argument habe ich schon durch. (lacht) Das C-Level ist aber oft erstaunlich … beratungsresistent.
Das klang jetzt ein bisschen zynisch.
Ich hoffe, Ihre Leser:innen verzeihen mir das. Ich bin einfach mit jeder Faser meines Seins davon überzeugt, dass wir nicht weitermachen können wie bisher; dass wir aufhören müssen mit dieser «werblichen Verschmutzung» der Welt. Und ich denke, ein grosser Teil der Branche – aufseiten der Agenturen wie aufseiten der Auftraggeber:innen – würde mir zumindest still beipflichten. Jetzt brauchen wir nur noch den Mut, die Alternativen zu implementieren.
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Sir John Hegarty begann seine Karriere in der Werbung als Junior Art Director bei Benton and Bowles London im Jahr 1965. Zwei Jahre später trat er in die Beratungsfirma Cramer Saatchi ein, ehe er 1973 TBWA London als Kreativdirektor mitgründete. 1982 schliesslich rief er seine Firma Barton Bogle Hegarty ins Leben, mit der er in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche international beachtete Kampagnen realisierte; unter anderem für Levi’s, Audi oder Lego. Er gewann die grossen relevanten Werbe-Awards der Welt, unter anderem in Cannes den «Lion of St. Mark» für sein Lebenswerk.
Dieser Artikel erschien zuerst in der m&k extra! zum DirectDay 2023.