Was der Kunde sucht, das kauft er auch
Wie vertreibt man Schnecken ohne Gift? Aus Suchanfragen wie dieser entwickelt, produziert und vertreibt das Hamburger Startup Vivere neue Konsumgüter. Vivere-CEO Sebastian Johnston spricht im Interview über das durchaus ungewöhnliche Geschäftsmodell.
Neuproduktzyklen, wie etwa für Pflegeprodukte von Nivea, betragen rund drei Jahre. Sebastian Johnstons Firma Vivere braucht dafür lediglich acht bis zehn Wochen. Die Firma analysiert das Suchverhalten der Kunden, etwa bei Amazon, und entwickelt aufgrund dessen neue Produkte. Daraus sind mittlerweile über 800 Produkte entstanden – vom Heimtierbedarf bis zu Beauty. Ganz nach dem Motto „was der Kunde sucht, das kauft er auch“ erobern so völlig neue Produkte den Markt.
m&k: Sebastian Johnston, normalerweise entwickelt man zuerst ein Produkt, das man dann auf den Markt bringt. Sie verfolgen genau den umgekehrten Weg. Warum?
Sebastian Johnston: Wir sind ein datengetriebenes Unternehmen. Unsere Produktideen entstehen, indem wir Suchanfragen bei Google und bei Marktplätzen wie Amazon auswerten. Dabei merkt man sehr schnell: Viele Produktideen sind total naheliegend, es bietet aber niemand etwas Passendes an. Ein Beispiel: Sehr viele Menschen suchen online nach einem Mittel, um Schnecken zu vertreiben. Auf dem Markt gibt es aber fast nur Gift oder Fallen zum Töten von Schnecken. Daraus entsteht die Idee: Lasst uns ein Mittel entwickeln, das Schnecken abschreckt und vertreibt, ohne sie zu töten. Und zehn Wochen später beginnen wir mit dem Vertrieb des fertigen Produktes über die jeweils passenden digitalen Plattformen und Marktplätze unter einer von uns ebenfalls neu entwickelten Marke.
Sie entwickeln also datengetrieben Konsumgüter. Wie funktioniert das?
Um die Suchdaten richtig zu interpretieren, haben wir spezielle Algorithmen entwickelt. Weist der Algorithmus auf eine interessante Idee hin, setzen wir uns zusammen und analysieren die Daten: Wie gross ist der Markt für diese Idee tatsächlich? Und passt das Produkt zu einer unserer vorhandenen Marken, oder brauchen wir eine neue Marke mit einem eigenständigen Sortiment? Ausserdem muss das Produkt auch zu unseren Werten passen: Alle unsere Produkte sind cruelty free, nachhaltig produziert, recyclebar, vegan, ohne Mikroplastik. Und wir müssen alle Entwicklungsschritte bis hin zur Vermarktung selbst machen können. Dazu haben wir automatisierte und flexible Produktionsanlagen an unserem Unternehmensstandort in Hamburg aufgebaut. Wichtig ist, dass alles schnell geht: Aus den ersten Hinweisen in den Daten muss so schnell wie möglich eine konkrete Produktidee werden, die so schnell wie möglich in die agile Entwicklung und Testung geht, damit ein marktreifes Produkt entsteht.
Wenn Sie einen Trend identifizieren. Welche Schritte folgen darauf?
Sobald die Analyse der Kundenwünsche bei Suchmaschinen und Online-Marktplätzen ein Muster aufdeckt, setzt Vivere ein Entwicklungsteam darauf an. Pro Team arbeiten Researcher, Produktdesigner, Projekt- und Produktmanager gemeinsam mit Supply-Chain-Experten und Marketing-Spezialisten systematisch einen Fragenkatalog ab: Was steckt hinter dem Suchtrend, den die Daten zeigen? Ist es ein kurzfristiger Mode- oder Beauty-Hype, wie er etwa rund um ein Event wie das Coachella-Festival entstehen kann? Ist das, was die Suchdaten zeigen, ein nachhaltiger Trend, der gerade erst beginnt – oder flacht er schon wieder ab? Wenn man alle Schnittstellen aufeinander abstimmt und die Prozesse von Anfang an digital aufstellt, funktioniert das sehr gut und dauert nur wenige Tage oder Wochen.
Vivere bringt Konsumgüter sechsmal schneller auf den Markt als andere Hersteller, warum?
Wir sind so schnell, weil wir es können. Und weil das die Zukunft der Fast Moving Consumer Goods (FMCG) ist. Neue Kundenbedürfnisse entstehen, wir sind die ersten, die sie erkennen und dann auch direkt bedienen. Geschwindigkeit ist für uns entscheidend. Anders als klassische Konsumgüterhersteller oder Händler haben wir die Gnade der späten Geburt. Wir müssen keine alten Prozesse und Gewohnheiten mitschleppen oder ändern. Wir haben alle Prozesse und Workflows von Grund auf neu designt, vieles automatisiert und die Schnittstellen zwischen den einzelnen Entwicklungsschritten so gestaltet, dass alles flutscht. Wir haben keine Silos aufgebaut, sondern setzen von Anfang an kleine, crossfunktionale Teams auf neue Marken und Produkte an. Wir müssen nicht auf Produktionszyklen und Entscheidungsgremien von Partnern Rücksicht nehmen, weil wir alles selbst vor Ort haben: die Expertise, die Ressourcen. Wir bringen alle zusammen und dann läuft es, von Sprint zu Sprint.
Sie erweitern stetig Ihr Produktportfolio. Wie viele Produkte kommen pro Monat hinzu? Und wo liegen die Grenzen – also welche Produkte würden Sie nicht in Portfolio aufnehmen?
Die Konsumgüterbranche arbeitet langsam und wenig digital. Vivere schöpft dieses Innovationspotential aus, indem wir ohne Zwischenhändler arbeiten, Produkte radikal datengetrieben entwickeln und uns kompromisslos zu Nachhaltigkeit verpflichten. Wir bringen jeden Monat ein bis zwei neue Marken mit bis zu 50 Produkten auf den Markt, jedes Quartal wollen wir einen neuen Absatzmarkt erschliessen. Damit planen wir unseren Umsatz im nächsten Jahr zu verdoppeln.
Kurz noch zu ein paar Zahlen. Wie gross ist Ihr Team von Vivere mittlerweile und wo sehen Sie das Unternehmen in naher Zukunft?
Unser Team besteht aus 80 Menschen aus über 15 Nationen, die Spass daran haben, mit viel Kreativität und Freiheit neue Marken und Produkte zu entwickeln und auch sofort umzusetzen. Dafür setzt das Führungsteam sein ganzes Erfahrungswissen aus der Konsumgüterbranche, E-Commerce, Produktentwicklung und Marketing ein. Uns alle treibt das Ziel an, mit neuen nachhaltigen Produkten die traditionelle Konsumgüterbranche umzukrempeln.
Wie Markenführung in turbulenten Zeiten funktioniert, das ist Thema beim Schweizer Markenkongress. Der grösste Branchentreff der Schweiz findet am 16. Juni als Hybridkongress in Zürich statt. Über 30 Experten von nationalen und internationalen Erfolgsmarken stehen in 10 Foren auf der Bühne. Sebastian Johnston wird in Zürich über das völlig neue Verständnis von Markenführung sprechen.